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Z u r O r t s b e s t i mm u n g v o n B a u u n d B a u s k u l p t u r
Dass Georg Dehio hier (ähnlich wie Franz Kugler zuvor)
das Langhaus dem Chor vorausgehen lässt und die gewölb-
­ten Ostteile von Königslutter folgerichtig
„in die Zeit um
1170”
datiert, ist um so überraschender, als er (gemein­
sam mit Gustav von Bezold) in dem ebenso umfang­
reichen wie beeindruckenden Werk über
Die kirchliche
Baukunst des Abendlandes
1892 das zeitliche Verhältnis
von Chor und Langhaus genau umgekehrt gesehen hatte.
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Wir werden uns also fragen müssen, was ihn veranlasst
hatte, seine Ansicht zu revidieren. Festzuhalten bleibt,
dass es neben dem
Anlageschema
(Grundriss) und der
Bauskulptur
vor allem Fragen der
Wölbung
und ihrer Da­
tierung sind, die Königslutter ins Zentrum des Interesses
rückten. Dies gilt auch für andere Handbücher zur Ge­
schichte der romanischen Architektur in Deutschland
und speziell (Nieder-) Sachsen. Wilhelm Lübke z. B., der
bereits 1850 und 1851 Königslutter allgemein bekannt
gemacht hatte, erwähnt 1884 in der sechsten Auflage
seiner
Geschichte der Architektur
den Bau ebenfalls mit
Blick auf die Einführung des Gewölbebaus:
„Erst im Laufe des 12. Jahrh. scheint in diesen
[säch­
sischen]
Ländern die Ueberwölbung der Kirchen in Auf­
nahme gekommen zu sein, von der man in anderen
Gegenden bereits im 11. Jahrh. bedeutsame Spuren
antrifft. Eins der frühesten Beispiele
[!]
mag die im Jahre
1135 von Kaiser Lothar begründete Benedictiner-Abtei­
kirche Königslutter sein. Nach außen durch drei statt­
liche Thürme, reich entwickelten Chorbau und prächtige
Portale imponierend, davon das eine mit feinen Säulen
auf zwei mächtigen Löwenfiguren offenbar in Nach­
ahmung oberitalienischer Bauten ruht, zeigt die Kirche
im Inneren bedeutende Verhältnisse und würdige Aus­
stattung. Aber nur Chor und Kreuzschiff haben roma­
nische Gewölbe, und das erst später eingewölbte Lang­
haus war ursprünglich als schlichte flach gedeckte
Pfeilerbasilika entwickelt. Besonders reich sind die als
zweischiffige Hallen angelegten Kreuzgänge aus der letz­
ten romanischen Epoche.”
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Lübke hatte damit (im Gegensatz zu Franz Kugler) die ge­
wölbten Ostteile der Klosterkirche von Anfang an mit dem
Datum 1135 in Verbindung gebracht, den berühmten
zweischiffigen Kreuzgang allerdings von den Ostteilen
abgesetzt und erst in der
„letzten romanischen Epoche”
für möglich gehalten. Und: Er spricht von einer
„Nach­
ahmung oberitalienischer Bauten“
.
Dass neben der Leistung einzelner Herrscher (Dehio z. B.
hatte Kaiser Lothar und Heinrich den Löwen genannt) ein
wie auch immer definierter
Nationalcharakter
in Bauten
und Werken der Kunst zum Ausdruck komme, war in
Deutschland seit dem späten 18. und dem frühen, roman­
tisch geprägten 19. Jahrhundert zu einer der Konstanten
kunst- und architekturgeschichtlicher Literatur geworden.
Erst die Katastrophen der nationalsozialistischen Herr­
schaft und des Zweiten Weltkriegs haben zu anderen Ge­
schichtskonzepten und Einschätzungen geführt.
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In Verbin­
dung mit soziologisch-soziographischen Begriffen wie
Adel, Klerus, Klasse, Stand oder Schicht wird deutlich,
dass die Vorstellungskomplexe
Nation
einerseits und
Milieu
andererseits zu den entscheidenden Faktoren einer
kunst- oder kulturgeschichtlichen Leistung gezählt wur­
den – und immer noch werden. Jede Aussage, jedes
Urteil zu Königslutter bleibt, zumindest in Teilen, durch
Grundannahmen dieser Art konditioniert.
Deutsch
oder
italienisch
?,
kaiserlich
oder
hirsauisch-reformorientiert
?
Paulinzella, Ruine der Klosterkirche, Mittelschiff (1115 – 1124)
Hildesheim, Sankt Godehard, Mittelschiff (ab 1133)