Seite 67 - Karl_und_Wilhelm_3

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geblieben, obgleich Karls Großkinder bis
1931
– vergeblich – vor Gerichten in Genf und
Braunschweig um einen angemessenen Anteil am Erbe prozessierten.
Wilhelm wartete weiter ab, ob der Bundesrat seinen Beschluss über die
braunschweigische Thronfolge abändern würde, oder ob Bruder Karl einlenkt und gegen
eine angemessene Abstandszahlung seine Thronansprüche und die seiner Nachfolger
aufgibt. Einige Juristen waren allerdings der Ansicht, dass Herzog Karl nur für sich
selbst verzichten könne, nicht aber für seine eventuellen Kinder. Jedenfalls hatte Herzog
Wilhelm dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. im böhmischen Teplitz im
Jahre
1836
erklärt, die Situation sei für eine Fürstentochter „zu prekär und unsicher”, er
werde erst dann heiraten, wenn die Thronfolge geklärt
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sei.
Des Wartens bald überdrüssig, hat Herzog Wilhelm mit zunehmenden Alter trotz
seines ausgeprägten Pflichtbewusstseins einen Ausweg in der „großen Liebe” gesucht.
Aus seiner persönlichen Sicht eine wohl angenehmere Lösung, als weiteres Bemühen
um Klärung aller Rechtsfragen. Seine dankbaren Partnerinnen aus der Braunschweiger
Theaterwelt nahmen diese Einstellung des Fürsten erstaunend zur Kenntnis und
erfreuten sich seiner Aufmerksamkeit und wertvoller Geschenke. Er hat sie alle zu guten
und gesuchten Partien „gemacht”, und in der Regel bei stolzen aber mittellosen
Offizieren dankbare Abnehmer gefunden. Je größer der Altersunterschied zu seinen
Mätressen wurde, je teurer sind sie ihm gekommen.
Sein Beharrungsvermögen, sein Phlegma und der lange Zeit fehlende Druck seiner
Minister in der Nachfolgefrage begünstigten diese Entwicklung und haben schließlich zu
seiner Ehelosigkeit geführt. Er muss es sich daher im Nachhinein gefallen lassen, dass
seine Landsleute gerade dieser Frage so viel Bedeutung beimessen. Schließlich wären den
Braunschweigern fünf Jahre unter den hannoverschen Welfen und
28
Jahre preußische
und mecklenburgische Regentenherrschaft erspart geblieben, wenn die regierende
bevernsche Linie durch Wilhelm standesgemäß fortgesetzt worden wäre. Hätten wir
unsere alte Gesellschaftsordnung beibehalten und nicht zwei irrsinnige Weltkriege und
die destruktive Naziherrschaft über uns ergehen lassen müssen, dann würden in
Braunschweig wohl noch immer die Welfen herrschen, mutmaßlich in der Person des
Prinzen Ernst August von Hannover. Zwischen den Bildern (Seite
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) des Herzogs
Wilhelm und des Prinzen von Hannover liegen etwa
150
Jahre. Bei der Betrachtung
beider Bilder, werden viele es begrüßen, nun in einer Republik zu leben; mancher aber,
von den unzähligen und unseligen Erklärungen und Versprechungen unserer heutigen
Politiker verdrossen und ermattet, wird vielleicht auch ins Grübeln kommen.
Die letzten beiden Jahrzehnte der Regierungszeit des Herzogs Wilhelm sind in
seiner Residenzstadt, aber auch in den anderen Teilen des Herzogtums durch eine
beachtenswerte wirtschaftliche Entwicklung gekennzeichnet. Die Gründerzeit hatte
begonnen und vor dem Hintergrund einer relativ leistungsfähigen Landwirtschaft,
waren mit einer ausgewogenen Zollpolitik, mit dem Bau von Eisenbahnen und Straßen
und mit einer fortschrittlichen Schulpolitik von der herzoglichen Regierung hierzu die
notwendigen Voraussetzungen geschaffen worden. An Wilhelm selbst sind diese
rasanten und dynamischen Entwicklungen nahezu unbeachtet vorbeigegangen.
Kontakte zu den neuen Industrieherren oder gar zu den Vertretern der Arbeiterschaft
hat er nicht gesucht, sondern führte weiterhin seine Gespräche mit der höheren
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