Seite 17 - Zwangsarbeit

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tige Position im Fernverkehrsnetz, zu überwinden. Nun wurde ernsthaft der Bau eines
neuen Braunschweiger Durchgangsbahnhofs in Angriff genommen. Der braunschweigi-
sche Ministerpräsident Klagges, der die Landeshauptstadt zu einer künftigen Gauhaupt-
stadt ausbauen und umgestalten wollte, war in dieser Frage mehrere Jahre erfolglos
geblieben. Gestärkt wurde auch Braunschweigs wehrwirtschaftliche Bedeutung, vor
allem im Bereich der Luftfahrt durch die Einrichtung des Verkehrsflughafens Waggum,
die Einbindung in das deutsche Luftverkehrsnetz und die Gründung der „Deutschen
Forschungsanstalt für Luftfahrt“ (DFL). Braunschweiger Industrieunternehmen wie
MIAG, Luther & Jordan und die Flugzeugreparaturfabrik GmbH Braunschweig sowie
die bereits erwähnte NIEMO engagierten sich in der Flugzeugproduktion
6
.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war zwischen Hannover, Braunschweig, Wolfs-
burg und Salzgitter augenscheinlich ein neuer Industriebezirk im Entstehen begriffen, der
nach Einschätzung hochgestimmter Zeitgenossen den Vergleich mit dem Ruhrgebiet
künftig nicht würde zu scheuen haben
7
. Binnen weniger Jahre war die traditionelle Struk-
tur der Braunschweiger Industrieregion erheblich verändert: „Eine breitgefächerte weit-
verzweigte Industrie mit einer Reihe hochspezialisierter Unternehmen und einer lei-
stungsfähigen Exportindustrie entwickelte sich zu einem Industriekomplex, in dem Roh-
stoff- und Rüstungsindustrie dominierten, in dem der Großbetrieb immer stärker den bis
dahin vorherrschenden Mittelbetrieb zurückdrängte“
8
. Dieser Modernisierungsschub
der braunschweigischen Industrie vollzog sich offenkundig schon vor Kriegsausbruch zu
Lasten des Handwerks und Einzelhandels, sowie der Landwirtschaft, denen in immer
zahlreicheren „Auskämmaktionen“ Arbeitskräfte zugunsten der Rüstungsproduktion
abgezogen wurden
9
. Befürchteter Arbeitskräftemangel und Abwerbung qualifizierter
Kräfte ließen im Frühjahr 1938 den Vorstandsvorsitzenden der Salzgitter-„Reichswerke“
Paul Pleiger eindeutig Stellung beziehen gegen die Ansiedlung eines zweiten großen
Industrieunternehmens in der Region, das spätere Volkswagenwerk in Wolfsburg
10
. Die
Anspannung auf dem braunschweigischen Arbeitsmarkt kurz vor Ausbruch des Krieges
verdeutlicht sich durch einen Blick in die Statistik, wenn unter den deutschen Städten
mit 100.000 und mehr Einwohnern die Stadt Braunschweig am 30. Juni 1939 als einzi-
ge Stadt (neben Würzburg) 0,0 Arbeitslose auf 1.000 Einwohner aufweist
11
. Bei dieser
Ausgangslage war eine Verschärfung der Arbeitsmarktsituation unter Kriegsbedingungen
durch die Inanspruchnahme wehrfähiger Männer zum Kriegsdienst unvermeidlich.
Umstellung auf Produktion unter Kriegsbedingungen
In den nachfolgenden Ausführungen und den sich anschließenden Darstellungen der
drei Wehrmachtteile Heer, Luftwaffe und Marine kommt hauptsächlich die Rüstungs-
industrie
12
in den Blick. Darunter sind die Betriebe zu verstehen, deren Fertigung nach
6
Ebd., S. 75.
7
Ebd. Anm. 939, Zitat Otto Blum aus dessen 1939 veröffentlichtem „Gutachten über die Verbesserung der
Eisenbahnverbindung Nordwestdeutschland – Südostdeutschland.“
8
Pollmann
/
Ludewig
(wie Anm. 2) S. 155.
9
Ludewig
(wie Anm. 2) S. 1000, 1003.
10
Stubenvoll
(wie Anm. 1) S. 130.
11
Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich Nr. 14 vom 28. Juli 1939, S. 12.
12
Die nachfolgenden begrifflichen Differenzierungen nach Georg
Thomas
, Geschichte der deutschen Wehr-
und Rüstungswirtschaft (1918-1943/45). (Schriften des Bundesarchivs 14) Boppard a. R. 1966, S. 76.