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„… ganz gut davon gekommen“
Ein schwerer Neuanfang
Die Besatzungsmächte fanden ein ausgemergeltes Land
vor, dessen Misere sich in den unmittelbaren Nach
kriegsjahren zunächst sogar noch vergrößerte. Die
deutsche Wirtschaft war vollkommen den Kriegs
anstrengungen des nationalsozialistischen Regimes
untergeordnet gewesen; ihre Produktivität fiel bis 1946
auf den Stand von 1865 zurück. Die ausgelaugten land
wirtschaftlichen Flächen lieferten nicht einmal mehr
die Hälfte der Vorkriegserträge.
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Der Kohlebergbau
lag danieder. Die Verkehrswege waren zerstört, sodass
die wenigen noch vorhandenen Güter kaum trans
portiert werden konnten. Die Männer, im Krieg ge
fallen oder in Gefangenschaft, fielen als Arbeitskräfte
aus.
Die Städte waren zerbombt, Millionen Flüchtlinge
aus den ehemals ostdeutschen Gebieten strömten
bereits seit Ende 1944 in Richtung Westen. Es fehlte
an allem: an Energie, Transportmitteln, Rohstoffen,
Maschinen und Arbeitsgeräten, qualifizierten Arbeits
kräften … Noch Ende 1945 lief der Postverkehr im
Landkreis Gifhorn „zum Teil noch mit Verzögerung“.
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Die Alliierten und die nachgeordneten deutschen
Behörden standen vor der unvorstellbaren Heraus
forderung, diesen Kreislauf des Mangels zu durch
brechen, alle jedenfalls mit dem Allernotwendigsten
notdürftig zu versorgen und die Infrastruktur wieder
aufzubauen.
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Dies ließ sich zunächst nur mit einer
flexiblen, situationsabhängigen „day to day admi
nistration“ bewerkstelligen.
Zu allen Schwierigkeiten traten die britische
Genauigkeit, die die sprichwörtliche deutsche Gründ
lichkeit noch übertraf, und die zweizügige Verwaltung
hinzu: Mit einer wahren Papierflut wurden alle Maß
nahmen schriftlich angeordnet und weitergeleitet; eine
Vielzahl von Meldungen zu den unterschiedlichsten
Aspekten – Lebensmittelversorgung, Behandlung von
entlassenen KZ-Häftlingen, Ernteergebnisse, Wohn
raumbelegung, Wiedererwachen des politischen
Lebens und und und – ging durch die Instanzen zurück
nach oben.
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„Let them run their own show“ – Displaced Persons
Eines organisatorisch besonders schweren Erbes des
Naziregimes nahmen sich die Alliierten unmittelbar
nach ihrem Einmarsch an: der Rückführung der ehe
maligen Zwangsarbeiter und der Kriegsgefangenen, die
Nazideutschland als billige Arbeitskräfte aus ihren
Heimatländern verschleppt hatte. In Fallersleben
hatten sich drei Kriegsgefangenenlager mit Russen,
Serben und Franzosen und ein Lager mit jugo
slawischen Zwangsarbeitern befunden.
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Zwanzig bis
dreißig aus osteuropäischen Ländern stammende
Zwangsarbeiter waren auf verschiedenen Bauernhöfen
untergebracht,
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mindestens achtzig weitere hatten in
der Fallersleber Zuckerfabrik, aber auch in örtlichen
Gastwirtschaften, im Handwerk und Einzelhandel
sowie in der Stadtverwaltung gearbeitet.
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Sie alle
waren jetzt frei. Weitere ehemalige Zwangsarbeiter
Kindergartengruppe mit Leiterin Ilse
Kumbein vor dem Hoffmannhaus 1946.