Seite 12 - Fallersleben

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Im Spiegel der Zeit
CHRISTOPH STÖLZL
Grabe, wo Du stehst:
die Orte, deren Charakter wir
erkunden wollen, geben ihre Geschichte dann preis,
wenn wir ihnen auf den Leib rücken. Beginnen wir mit
der Oberfläche: Dem unbefangenen Betrachter wird
Fallersleben als eine Stadt erscheinen, die Deutsch-
lands Geschichtspluralismus auf typische Weise
spiegelt: das Fachwerk des Häuserbaus der frühen Neu-
zeit und die Ehrwürdigkeit eines Herzogsschlosses, der
asketische Klassizismus der Hauptkirche wie die Atem-
losigkeit des modernen Städtebaus in der histo­risch
kurzen Zeitspanne von 1950 bis zur Jahrtausendwende.
Und wer auf das Ortsschild schaut, dem kommt, jeden-
falls wenn er einen deutschen Pass hat, unweigerlich
die Wortverbindung „Hoffmann von Fallersleben“ in
den Sinn – bei der sich vielleicht erst beim zweiten
Überdenken das Fragezeichen einstellt, ob es sich bei
dem „Hoffmann“ um einen Vor- oder Nachnamen
handle.
Die Spuren von Jahrmillionen:
Auf ganz andere Zeit-
schichten zielt die Neugier der Geologen. Sie blicken
sozusagen ohne gesteigertes Interesse für die Ober-
flächenspuren in das Innere der Stadtlandschaft. Ohne
Schaudern vor der Tiefe des Brunnens der Vergangen-
heit suchen sie nach der Spur der Steine. Erdaltertum
und Eiszeit, Millionen oder Zehntausende von Jahren
schrecken sie nicht: atemberaubenden Dimen­sionen,
verglichen mit unserem Menschengedächtnis! Unterm
Pflaster liegt für diese Forscher der Strand der Urmeere,
der Sumpf der prähistorischen Urwälder, das Geröll
der Eiszeiten. Für die Geologen sieht die Landkarte
Europas anders aus als für uns, die Erben einer
Zivilisation, der die Einteilung der Welt in politisch
wichtige oder unwichtige, kulturell bedeutsame oder
harmlose, wirtschaftlich produktive oder belanglose
Ereignisse in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die
Geologen wissen nichts von Fürstenherrschaft und
Im Spiegel der Zeit: Fallerslebens Geschichte im Überblick
Schlossbau, von Herren und Knechten, von Eman­
zipation und Freiheit, von Industriekultur, modernem
Leben und Standortkonkurrenz. Für sie spielen alle
Punkte auf ihrer Landkarte, auch das ehrwürdige
Fallersleben, das heute Stadtteil einer Großstadt ist,
die im Maß der Erdzeit gerade einen Augenblick alt ist,
nur marginale Nebenrollen im ungeheuren Drama der
Naturgeschichte.
Gestein und Landschaft:
Hören wir einmal hinein in
das fachkundige Raunen der Landschaftskundigen des
Raumes Fallersleben: Als die Wärme zurückkehrte
nach der letzten Eiszeit, von der niemand weiß, ob sie
nicht dereinst eine Nachfolgerin bekommen wird, vor
10.000 Jahren also, kamen die Bäume zurück, und das,
was wir heute Fallersleber Land nennen, war von
dichtem Wald bedeckt. Was die ersten sesshaften
Ackerbauern vor 5.000 Jahren mit ihrer Rodung be-
gannen, die Verwandlung von Natur- in Kulturland-
schaft, das ist ein Prozess, der bis heute anhält. Aus
Wäldern werden Felder, aus Feldern Räume für
Wohnen und Wirken, Gehen, Reiten oder Fahren. Wie
weit Natur sich fügt, wie weit sie diesen Prozess der
Zivilisation vorgibt, welchen Menschentyp sie anzieht,
welchen sie abstößt, daraus nicht zum wenigsten be-
steht unsere Geschichte.
Für Wirtschaftsgeologen ist der Raum Fallersleben
von hohem Interesse. Tonsteine, Kalke, Mergel, Sand-
und Schluffsteine, vor 200 bis 145 Millionen abgelagert,
in unendlich langen Zeitspannen zu Gesteinen ver-
festigt, stiegen über Jahrmillionen an die Oberfläche
und wurden zu Elementen des Ostbraunschweigischen
Hügellandes. In historischer Zeit prägte ihre Existenz
die Wirtschaft des Raumes. In der Frühen Neuzeit ent-
standen Kalköfen und Ziegeleien. Kalisalz lag zur
Förderung bereit. Gewaltige Inlandsgletscher hinter-
ließen Geschiebelehm und Sand, zum Teil geeignet, zu