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Eine Urkunde und ihre Folgen
Warum gab es Zweifel an der Urkunde?
Das Ausstellungsjahr 966 kann aus folgenden Gründen
nicht stimmen:
1. Otto I. war seit 962 Kaiser, wird hier aber als König
bezeichnet.
2. Die geliebte Königin „Adgidis“ (Edith)
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war bereits
946 gestorben.
3. Der Sohn Liudolf, Ottos designierter Nachfolger,
war 957 gestorben.
4. Der Kanzler Brun, Ottos jüngster Bruder, war ab
953 Erzbischof von Köln und nicht mehr in der
Reichskanzlei tätig.
Es sei erwähnt, dass Otto längst wieder verheiratet
war; er hatte mit Adelheid von Burgund, der Witwe
des italienischen Königs,
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vier Kinder gezeugt, von
denen die ersten beiden, zwei Söhne, bald starben.
Doch bekam das Paar noch eine Tochter und einen
weiteren Sohn namens Otto.
Es verwundert, wenn König Otto unverdrossen um
das Seelenheil seines verstorbenen erstgeborenen Sohnes
besorgt war, obwohl dieser nach der erneuten Heirat
seines Vaters, um seine Thronfolge fürchtend, einen Auf-
stand der Herzöge im Reich angezettelt hatte, den sein
Vater erst nach Jahren niederringen konnte. 973 be-
stätigte Otto II. diese Schenkung, nun jedoch zugunsten
des Seelenheils seines Vaters.
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Damit ist die Verwirrung
komplett: Seit 961 war Otto II. deutscher König, seit 967
Mitkaiser gewesen. Hätte er eine auf ‚966‘ datierte offen-
sichtliche ‚Fälschung‘ nicht erkennen können? Hätten ihn
seine Mutter Adelheid oder sein Kanzler nicht warnen
können, dass hier etwas nicht stimmte?
Wer hat sich alles mit dieser Urkunde beschäftigt?
Die niedersächsischen Historiker Behrends (1849),
Schulze (1854) und Manecke (1858) hatten diese Ur-
kunde noch für echt gehalten und unter 966 ein-
geordnet.
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Sudendorf erkannte das Problem mit ‚966‘
und errechnete einen neuen Ausstellungszeitraum.
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1869 verwarf sie der Amtsrichter Fiedeler als Fälschung
und ließ als erste Erwähnung Fallerslebens nur die Ur-
kunde Ottos II. von 973 gelten.
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Fortan wurde 966 in
der Orts- und Regionalgeschichte als zweifelhafte und
973 als gesicherte Ersterwähnung bezeichnet, jedoch
ohne dem Datierungsproblem auf den Grund zu gehen.
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Das Rätsel löste 1877 der Wiener Historiker Theodor
Sickel: Er erklärte die Urkunde für echt, datierte sie
aber von 966 zurück auf 942.
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Unter diesem Jahr
wurde sie dann in die Monumenta Germaniae Historica
(MGH), die Regesta Imperii (RI) und nachfolgende
wissenschaftliche Veröffentlichungen aufgenommen.
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Erstmals 1931 in der Regionalgeschichte und 1938 in
der Ortsgeschichte wurde die Urkunde auf das Jahr
942 datiert.
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Am längsten brauchten die Kirchen-
historiker, um die Umdatierung zu bemerken.
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Zunächst ein Wort zur Klärung: Diese Urkunde von
‚966‘ ist im äußeren Erscheinungsbild sehr wohl echt.
Sie trägt das Handzeichen und das Siegel des Königs,
sie ist in einer auch von anderen Urkunden aus Ottos
Regierungszeit bekannten Handschrift geschrieben,
und sie entspricht den meisten Formalien für Urkunden
dieser Zeit. Nur das Datum kann nicht stimmen.
Sickel war bei seinen Forschungen nicht vom Ehr-
geiz getrieben, das Alter von Fallersleben und Ehmen
künstlich zu erhöhen. Er beschäftigte sich vielmehr
grundsätzlich mit den früh- und hochmittelalterlichen
Urkunden seit den Merowingern. Sein Ziel war es, die
Diplomatik (Urkundenlehre) auf eine neue wissen-
schaftliche Grundlage zu stellen. Er wurde Mitarbeiter
an den MGH sowie Gründer und Leiter des Öster-
reichischen Historischen Instituts in Rom zur Er-
forschung der vatikanischen Urkunden.
Was war überhaupt die Reichskanzlei im 10. Jahr-
hundert?
Die Urkunde von 942 hatte für Sickels Forschungen
exemplarische Bedeutung, denn sie verdeutlichte, dass
Vorstellungen, die sich seine gelehrten Zeitgenossen
Oben:
Adelheid.
Unten:
Edith. „Die ,Lady Di‘ des Mittelalters“.
(Die Zeit, 25/2010)