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Marco, Bischof zu Fallersleben
über das ottonische Kanzleiwesen gemacht hatten,
lediglich Rückprojektionen aus ihrer Zeit waren und
mit der mittelalterlichen Realität nichts gemein hatten.
So meinte Fiedeler noch, die von ihm festgestellten
Fehler in der Urkunde hätten „gegen alle Regeln der
kaiserlichen Kanzlei, deren Formeln ja mit eiserner
Consequenz Jahrhunderte lang festgehalten wurden“,
verstoßen.
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Sickel hätte wohl darauf geantwortet, dass
die deutsche Kanzlei damals doch erst am Anfang ihrer
‚jahrhundertelangen Tradition‘ gestanden hatte.
Die Urkunde enthält zu unserer Frage eine auffällige
Formulierung: „Das Handzeichen des Herrn und Ge-
bieters Otto … habe ich, der Kanzler Brun an Stelle des
Erzkaplans Friederich geprüft und für richtig befunden.“
Kanzler Brun, der in sein Amt übrigens mit rund 16
Jahren berufen wurde, hatte also einen Vorgesetzten,
den Erzkaplan, d. h. den Priester der Hofkapelle.
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Als
Erzkaplan – später Erzkanzler – amtierte der jeweilige
Erzbischof von Mainz. Der hier genannte Erzbischof
Friedrich musste damals wegen seiner Beziehungen
zur Opposition einstweilen das Amt des Erzkaplans
ruhen lassen.
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Die Formulierung erweist sich als Fik
tion: Brun war dem Erzkaplan nur formal unterstellt.
Karl Fr. Stumpf, Sickels gelehrter Gegenspieler,
hatte bis dahin dem ottonischen Kanzler Bismarcksche
Züge verliehen: „Als Vorstand der Reichskanzlei, wo
zugleich der heranwachsende geistliche Adel seine
staatsmännische Bildung erhalten, liefen in seine
Hände alle Fäden der weitverzweigten Regierung zu-
sammen“.
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Stumpf zufolge leitete der Kanzler sowohl
die Regierung als auch die Nachwuchsbildung.
Sickel konterte: „… ich kann wiederum Stumpf darin
nicht beipflichten, dass er Brun, den Bruder Otto I., als
Wiederhersteller und bahnbrechenden Reformator der
Kanzlei preist. Ich glaube vielmehr, ohne damit andere
demselben Prinzen nachgerühmte Verdienste leugnen
oder verkleinern zu wollen, dass gerade unter Brun als
Kanzler und unter seinem unmittelbaren Nachfolger
Liutolf die Kanzlei schlechter denn je organisiert war
und dass Brun und seine Amtsgenossen sehr wenig
Verständniss und Befähigung für einigermassen ge-
ordnete Geschäftsführung besessen haben, was denn
auch auf andere Seiten des inneren Regiments Ottos
ein Licht wirft und manchen Misserfolg oder geringen
Erfolg zu erklären geeignet ist“.
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Sickel belegt seinen Befund vor allem mit den
Datierungsfehlern in Bruns Urkunden, deren Neu-
datierung für die MGH ihm einige Mühe gemacht zu
haben scheint. Dazu ein Beispiel: Eine andere Fallers-
leben erwähnende Urkunde datiert auf das Jahr 944
und musste auf 997 umdatiert werden, d. h. sie stammte
nicht von Otto I., sondern von seinem Enkel, Otto III.
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Sickel betont, dass schon Lesen und Schreiben nur
in kleinen, zumeist kirchlichen Kreisen gepflegte Künste
waren. Das Rechnen hingegen – und der Umgang mit
Ziffern – war so gut wie gar nicht verbreitet. Das Er-
scheinen eines Buches über das Rechnen sei in diesen
Zeiten einer literarischen Sensation gleichgekommen.
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Was Sickel über das Rechnen sagt, gilt für die Zeit-
berechnung und das Kalenderwesen im besonderen.
Den Schreibern stand offenbar kein Kalender zur Ver-
fügung, für die Zeitangaben nahmen sie stattdessen
andere Urkunden und Schriftstücke aus der Registratur
zur Vorlage und zählten das Datum einfach hoch.
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Enthielt ein Schreiben einen Zählfehler, konnte sich
dieser Fehler auf dem Weg über das Kopierverfahren
durch zahlreiche andere Diplome fortsetzen.
Hinzu kommt, dass die Ottonen Reisekönige waren.
Sie führten einen ‚Hofstaat‘, aber keine Residenz. Ihre
Herrschaft über Deutschland und Italien beruhte auf
persönlicher Präsenz, ihre Lebensweise war perma
nentes Reisen. Mit dem Hof machten sie Station in
Pfalzen und Klöstern; ihre Rechtsgeschäfte – Schen
kungen, Belehnungen usw. – wurden in den dortigen
Schreibstuben beurkundet. Nur der Kanzler gehörte
zur ständigen Begleitung des Herrschers, wenige
Schreiber (Notare) blieben längere Zeit im Gefolge. Die
meisten Schreiber wurden vor Ort gewonnen. Deshalb
erlangten nur Notare in Orten, wo Otto I. sich häufiger
aufhielt, eine gewisse Routine im Abfassen der Ur-
kunden. Deutliche Unterschiede stellten sich jeweils
bei Reisen Ottos nach und aus Italien ein. Bei Über-