Seite 47 - Fallersleben

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Eine Urkunde und ihre Folgen
querung der Alpen wechselte das Schreibpersonal, und
damit auch die Form der Urkunden und deren Da­
tierung. Sickel fasste seine Erkenntnisse zusammen:
„In der Hauptsache scheint dieser Zustand fortgedauert
zu haben, bis unter Heinrich II. das Kanzleiwesen und
damit zugleich die Behandlung der Daten von mass­
gebenden Personen wieder in Ordnung gebracht worden
ist. Vor 1002 nahm ich bisher nur theilweise und nicht
lange anhaltende Besserung wahr, die aller Wahrschein-
lichkeit dem neuen Aufschwunge der Schulen seit der
Mitte des Jahrhunderts zu verdanken war“.
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Wie kam man von 966 zurück ins Jahr 942?
Die Rechenfehler traten auf, obwohl die Zeitgenossen
über drei bis vier Kalendersysteme – ein lineares und
drei zyklische – verfügten und für die Urkunden-
datierung gleichzeitig nutzten.
Im 10. Jh. stand es um die lineare Jahreszählung seit
Christi Geburt schlecht bestellt. Die Inkarnation war der
jüngste Kalendertyp und erst seit 876 in Königs- und
Kaiserurkunden eine obligatorische Angabe.
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Als Schrei­
ber wusste man, dass diese Jahresangabe unverzichtbar
für eine gültige Urkunde war. Das bedeutete aber weder,
dass das aktuelle Jahr bekannt war, noch, dass die
korrekte Schreibung der Zahl gelang. Auf diese Unkennt-
nis und Ignoranz zielt eine Kernthese Sickels nach seiner
Analyse der Urkunden aus ottonischer Zeit.
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Zurück zur Fallersleben-Urkunde. Eine genaue Be-
trachtung ergibt, dass sie nicht in einem Zug ge-
schrieben wurde. Der Notar ließ beim Schreiben
Lücken an wichtigen Stellen, die – Sickel meint von
derselben Person – zu einem späteren Zeitpunkt ge-
füllt wurden. So wurde der Ortsname ‚gimin‘ nach-
getragen, auch vom Jahr der Ausstellung trug der
Schreiber zunächst nur das 10. Jh. (DCCCC) als ge-
sichert ein, später ergänzte er die 66 (LXVI).
Aus einer 40 (XL) ließe sich leicht eine 60 (LX)
machen, aus einer 2 (II) ebenso leicht eine 6 (VI).
Allerdings nur, wenn das Ergebnis nicht wirklich
interessierte: „Man griff wohl zumeist auf gut Glück
und ohne Prüfung auf die Zahlen zurück, welche man
in dem Urkundenvorrath der Registratur neueren
Datums fand und gebrauchen zu können meinte“.
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Wie steht es dann umdie zyklischen Kalendersysteme?
Bei Herrschaftsantritt eines Königs wurde die Zählung
der Herrschaftsjahre auf 1 zurückgestellt – die Zahl 0
kannte man noch nicht in Europa. Stieg der König zum
Kaiser auf, gesellte sich die Zählung der Kaiserjahre hinzu.
Sickel wies nach, dass in diesem Fall prompt die Zählung
der Königsjahre in Unordnung geriet. Diesen Schwierig-
keiten wich der Schreiber der Fallersleben-Urkunde aus,
indem er die Königsjahre gar nicht erst angab.
Die Indiktion – das ‚Römerzinsjahr‘ – war eine aus
dem Römischen Reich übernommene Zählweise mit
Bezug zur Steuererhebung. Die Jahre wurden als 1. bis
15. Indiktion bezeichnet, dann begann die Zählung
wieder bei 1. Man brauchte nur das aktuelle Kalender-
jahr – wenn man es denn kannte! – um drei erhöhen,
und die Summe durch fünfzehn teilen. Der Rest ergab
die aktuelle Indiktion. In unserem Fall wandte der
Schreiber einen Kunstgriff an, denn die angegebene
Indiktion kann sowohl 9 (VIIII) als auch 14 (XIIII) be-
deuten. Das erste Zeichen ist zwar deutlich zu er-
kennen, erinnert Sickel aber eher an eine arabische 4
denn an eine römische Ziffer.
Es verbleibt eine letzte Möglichkeit, aus dem Datum
auf das Ausstellungsjahr zu schließen. Als Monat wurde
der Oktober angegeben, als Tag der dritte Tag vor den
Nonen. Das war der 5. Oktober. Die Urkunde gibt weiter
an, dass dieser auf den vierten Wochentag fiel. Damit
war, anders als heute, der Mittwoch gemeint.
Die letzte Möglichkeit, das richtige Ausstellungs-
datum der Urkunde zu ermitteln, ergibt sich also aus
dem Jahr, in dem der 5. Oktober auf einen Mittwoch
fiel. Das Jahr musste sich im Zeitraum zwischen Ottos
Krönung und Ediths Tod befinden, d.h. im Zeitraum
von 936 bis 946. Zu beachten ist auch, dass das Datum
nach dem alten julianischen Kalender ermittelt werden
muss (der 5.10.942 bzw. Tag 283 des Jahres entspräche
dem 10.10.942 im gregorianischen Kalender). In diesem