Seite 54 - Fallersleben

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Die Michaelis-Kirchengemeinde
galt dies besonders. Bei ihnen kam als ‚Erblast‘ hinzu,
dass manche weiterhin mit ihren ‚Konkubinen‘ aus
Zölibatszeiten zusammenlebten, und nun zur Heirat
oder zur Trennung gezwungen wurden.
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So eine Visitation konnte einerseits recht unan-
genehm werden – 1583 befand man den Fallersleber
Superintendenten Johann Borgius (1570-1590) für
trunksüchtig
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–, andererseits bot sie Gelegenheit zu
Weiterem: Generalsuperintendent Joachim Hildebrand
(1662-1691) verheiratete drei Töchter an Superinten­
denten, darunter eine an den Fallersleber.
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Die Anwesenheit des Amtmanns bei der Visitation
nutzten die Pastoren oft für Klagen über die Gemeinde
oder einzelne Gemeindeglieder. Es ging um säumige
Zahler für die Dienste von Pastor, Küster und Lehrer,
um rückständige Zahlungen zu gemeinschaftlich be-
schlossenen Bauvorhaben und Fonds der Kirche oder
darum, Gemeindeglieder zum Besuch des Gottes-
dienstes und der anschließenden Katechismuslehre an-
zuhalten.
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Hier konnte das Amt mit seinen Zwangs-
mitteln helfen. Es kam auch häufig vor, dass Bauern –
zumal wenn sie zugleich Kirchenvorsteher waren – von
der Kirche gepachtetes Land zu ihrer Erbpacht er-
klärten und nicht mehr hergaben.
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Hinzu kamen die Abgrenzung zu konkurrierenden
Lehren. So galt es, dem Einfluss des Calvinismus und
Pietismus in lutherischen Ländern zu wehren, beides
Lehren gegen die landeskirchliche Hierarchie. Als aus-
gerechnet in Wittenberg ein ‚kryptocalvinistisch‘ an-
gehauchter Katechismus vorgestellt wurde, beschloss
ein Konvent der Superintendenten und der wichtigsten
Pastoren des Fürstentums 1571 in Celle einhellig dessen
entschiedene Ablehnung.
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Zurück in Fallersleben be-
rief Superintendent Borgius die Pastoren seines Bezirks
ein. Anschließend berichtete er Herzogin Clara, er habe
„daz buch Ihnen furgelegt, die greuliche verborgene
Irthumen aufgesuchet, Ihnen die gewiesen … mitt
sonderm ernste angekundigett, auch mitt gar seligem
gemuet vermanet, sich ja vleißig fur Ihr … zu hueten“
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Bereits im 16. Jahrhundert erstarrte so im Lüne­
burgischen das Luthertum zur Orthodoxie. Die Visita­
tionen dienten fortan der Überprüfung, ob die vom
Herrscher als Gesetz erlassenen Glaubenssätze pein-
lich genau befolgt und den Gemeinden gelehrt wurden.
Im 17. Jahrhundert war dies kein Problem mehr, denn
alle Pastoren kamen von Universitäten; Kandidaten mit
abweichenden Meinungen wären gar nicht zugelassen
worden.
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Diese Orthodoxie beherrschte das Land bis
zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Der letzte orthodoxe
„Generalissimus“ war Michael Walther (1642-1662). Er
bekämpfte im Fürstentum die Ausbreitung toleranterer
Ansichten, die nun an den Universitäten gelehrt
wurden, u.a. durch einen Katechismus, der 1653 ver-
bindlich eingeführt wurde.
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„daß ich auch ein eigen Buch davon schreiben
könnte …“
In Kriegszeiten galten dem Militär Kirchen als Metall-
reservoir für den Kanonenguss. Die Glocken, später
auch die Blitzableiter, wurden alsbald beschlagnahmt.
1627 misshandelten Tillys Soldaten den Fallersleber
Pastor so sehr, dass er nach Helmstedt flüchtete.
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Dann schmolzen sie die Glocke ein. Nicolaus Pyster,
Superintendent seit 1629 und 1660 wegen Blindheit in
Ruhestand versetzt, berichtete weiter: „Weiln nun keine
Glocke mehr vorhanden gewesen, damit man die
Leuthe zum Gottesdienst rufen könte, hat man aus
Noth ein Bredt für die Kirchthür hengen müßen, an
wel­chem der Küster mit zwei Hamern anschlagen, undt
zum Gottesdienst klappen müßen, welches man den
zwei Jahr lang, also continuiret“.
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Gottesdienst, Katechismuslehre, Amtshandlungen
und Schule konnten in diesen Jahrzehnten kaum statt-
finden, als „… nicht ein Jahr hingangen, da nicht unter-
schiedliche Durchzüge, Plünderung und dergleichen
Drangsahlen fürgangen, daher Wier offt in etzlichen
Wochen, weder in die Kirche, noch unsere eigene
Heuser kommen dürfften, bißweilen ich auch im
Holtze, undt Buschade geprediget, undt den Gottes-
dienst verrichtet habe“.
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