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sammen. Um eine Situation zu erfassen,
benötigt ein Fotograf nicht allein Geistes-
gegenwart, zum richtigen Zeitpunkt auf
den Auslöser zu drücken, sondern auch
einen intuitiven Blick für die genaue
und stimmige Bildkomposition. Daher
ist der
entscheidende Augenblick
nicht zu
verwechseln mit dem journalistischen
Schnappschuß. Vielmehr handelt es
sich um den Moment, in dem Inhalt und
Form des Bildes den Betrachter zu einer
geschärften Wahrnehmung der abgebil-
deten Wirklichkeit einladen: Sie machen
Unsichtbares sichtbar, offenbaren innere
Zusammenhänge und die Beziehungen
der Personen zueinander, und sie über-
raschen den Betrachter. Die Ästhetik
Cartier-Bressons, die unter Bildjournalis-
ten und Pressefotografen bis heute ein-
flußreich ist, betonte den Bildausschnitt.
Die Welt war komprimiert und auf das
reduziert, was der Fotograf im Rechteck
des Fotos eingefangen hatte.
F
otos für die Zeitung waren und sind
zunächst Material. Unter chroni-
schem Zeitdruck wählt die Redaktion
aus dem Angebot von Bildern aus. Die
Selektion geschieht nach tagesaktuellen,
ästhetischen und technischen Gesichts-
punkten. Je persönlicher der Redakteur
das Nachrichtenmaterial — Texte und
Fotos — zu gestalten versteht, umso mehr
Anziehungskraft gewinnt die Zeitung für
das Publikum. Doch bei Tageszeitungen
genießt noch immer der Text die Priorität
vor dem Bild. Bilder veranschaulichen die
Artikel. Die weitaus meisten Zeitungsbil-
der sind in diesem Sinne Bildnachrichten.
Sie bringen dem Leser Ereignisse, Un-
glücksfälle oder Personen von öffentlicher
Bedeutung zur Kenntnis. Aber nicht alle
in der Zeitung veröffentlichten Fotos ha-
ben Nachrichtencharakter. Es finden sich
auch reine Illustrationsfotos zur visuellen
Auflockerung der
Bleiwüste
und Fotos, die
unterhalten sollen: Lustige Tierfotos, ein
ungewöhnlicher Umzug in den Straßen
der Stadt, Faschingstrubel oder Fotos
der besseren Gesellschaft. Dazu kom-
men Aufnahmen mit künstlerischem
Anspruch, Stimmungs- und Genrebilder:
Portraits, idyllische Landschaften, Stadt-
ansichten im Stil einer Vedute oder un-
gewöhnliche Blicke auf die Stadt. Neben
dem Bildinhalt ist es auch hier der Neu-
igkeitswert der Aufnahmen, der für einen
Abdruck in der Zeitung ausschlaggebend
ist. Neu ist alles, was der Leser noch nicht
kennt, so noch nicht betrachtet hat, oder
möglicherweise bereits wieder vergessen
hat.
Die ausgewählten Fotos werden in den
seltensten Fällen unverändert abgedruckt,
sie werden bearbeitet: von der Wahl des
Bildausschnitts und des Abbildungsfor-
mates bis zur Retusche. Anders als in den
Illustrierten dominiert in der Zeitung das
Einzelbild, das zusammen mit der Bildun-
terschrift gelegentlich einen Nachrichten-
text ersetzen kann. In der Regel ergänzt
das Foto den Text. Bildreportagen oder
Fotodokumentationen sind sehr selten.
Auch dürfen Zeitungsfotos den Charakter
Kleine Typologie der
Pressefotografie
Leser der Braunschweiger Zeitung
1957
17,2 x 22,9