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Motorradfahrt auf Trümmerbergen
(vor) 1955
17,5 x 12,4
Im Hintergrund ist St. Andreas zu erkennen.
vor dem Schaufenster den Waren keinen
Blick. Vielmehr wendet sie sich ins helle
Sonnenlicht. Um sich zu wärmen? Um
den Blick auf weitere zertrümmerte Fas-
saden zu richten? Um den Blick, als ob
sie eine Vision hätte, zum Himmel zu
heben, der außerhalb des dicht kompo-
nierten, horizontlosen Bildausschnittes
liegt? Der Fotograf schafft ein Bild, des-
sen Widersprüchlichkeit sich erst bei ein-
gehender Betrachtung offenbart, das aber
in der Komplexität seiner Bildaussage ex-
emplarisch ist für die Beobachtungsgabe
von Hans Steffens.
Eine eindrucksvolle Metapher des Auf-
bruchwillens der Braunschweiger Bürger
schafft Steffens in seiner Aufnahme
eines auf Trümmerbergen aufwärts stre-
benden Motorradfahrers vor dem Hin-
tergrund der schwer zerstörten St. An-
dreas-Kirche. Das historische Bauwerk,
einst die Pfarrkirche der Neustadt, war
Zentrum eines Teils von Braunschweig,
der vor dem Krieg durch besonders ho-
mogene Fachwerkhausbebauung geprägt
war. Nach den verheerenden Bombar-
dements auf Braunschweigs Innenstadt
in den Morgenstunden des 15. Oktober
1944 war von den einst engen Gassen des
Handwerkerviertels nur noch ein weites
Trümmerfeld übrig geblieben. Auf die-
sem nun fotografierte Steffens einen Mo-
torradfahrer, der sich mit seinemGefährt
eine Schutthalde hocharbeitet. Der Blick-
punkt ist derart gewählt, daß der Fotograf
wohl zu Füßen der Erhebung positioniert
gewesen sein muß. Entsprechend monu-
mental wird so der mutige Kradfahrer
ins Bild gesetzt und erscheint heroisch
in seiner Anstrengung, mit dem fragilen
Gerät den steilen Berg zu bewältigen.
Der unbeirrte Blick des Fahrers nach
vorne sowie die konzentrierte Aufmerk-
samkeit für das, was vor ihm liegt, ergibt
in Zusammenschau mit der Ruine der
Kirche im Hintergrund ein symbolhaftes
Miteinander von Zerstörung und Neu-
beginn. Nur wenige Meter von diesem
Schauplatz entfernt muß der Standort
für eine weitere Ansicht von St. Andreas
lokalisiert werden. Allerdings sind in-
zwischen einige Jahre vergangen. Die
beiden Türme sind wieder von Hauben
bekrönt, damit läßt sich die Fotografie in
die Zeit nach 1955 datieren. Im Bildmit-
telgrund sind Gebilde zu sehen, die die
Bezeichnung Bauwerke kaum verdient
haben. Eine Ansammlung von Hütten
zeugt von der Mitte der 50er Jahre im-
mer noch bestehenden Notwendigkeit
improvisierten Wohnens im Herzen der
Altstadt von Braunschweig. Auf (blanker
Not geschuldeter) Erfindungsgabe läßt