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zu veröffentlichen, weil einerseits viele Gerüchte und Übertreibungen über den
Lebenswandel des Herzogs im Laufe von Jahrzehnten entstanden sind und weil
andererseits aber auch die Persönlichkeit Wilhelms nur abschließend gewürdigt werden
kann, wenn seine privaten Lebensumstände und seine geheimsten Gedanken aus
zuverlässiger Quelle bekannt sind.
Der schriftliche Nachlass des Herzogs Karl, insgesamt
10,20
m Akten, wurde von der
Stadt Genf an die dortige Universitätsbibliothek übergeben, wo er, hervorragend
aufgearbeitet, jedermann und zu jeder Zeit ohne Genehmigung zur Verfügung steht.
Ein entsprechendes Findbuch haben die Schweizer Archivare dem Staatsarchiv in
Wolfenbüttel übergeben und kann dort eingesehen werden.
Innerhalb des Nachlasses von Herzog Wilhelm findet man nicht nur in den
Tagebüchern, sondern auch in den erhalten gebliebenen Briefen und Vermerken
umfangreiche persönliche Anmerkungen, die von mir des besseren Verständnisses
wegen teilweise aus der englischen oder französischen Sprache übersetzt worden sind;
bei den herzoglichen Aufzeichnungen, sei es in deutscher oder ausländischer
Schreibweise, erfolgte bei der Orthographie, bei der Zeichensetzung und bei der
Grammatik eine gewisse, zurückhaltende Glättung und Einbesserung. Schließlich hat
Herzog Wilhelm seine schriftlichen Darlegungen nicht druckreif hinterlassen und mit
Sicherheit nicht an eine Veröffentlichung gedacht. Im Gegenteil: In den Jahren
1835
und
1836
hat er in seinem Tagebuch vermerkt „Nach meinem Tode zu verbrennen”, in
späteren Jahren diese Anordnung jedoch nicht wiederholt. Eine besondere Eigenart
Wilhelms war die relativ willkürliche Groß- und Kleinschreibung, die in vielen Fällen
beibehalten worden ist, um die Nähe zum Original nicht ganz verloren gehen zu lassen.
Die Tendenz zum „Großschreiben” verstärkte sich beim Herzog, wenn er dem
geschilderten Vorgang besondere Bedeutung beimaß. Entlehnte er Begriffe aus der
englischen, französischen oder lateinischen Sprache, wie Ministerium, Allianz, Konven-
tion oder Kontingent, dann schrieb er diese Worte überwiegend, wie in der Original-
sprache, „klein”, obgleich es nach deutschem Empfinden und Regeln Substantive sind.
Wenn über das Privatleben des Herzogs Wilhelm, insbesondere über sein
Liebesleben, überwiegend mit Hilfe der herzoglichen Tagebücher berichtet wird, stellt
sich natürlich die Frage, ob nach unseren heutigen rechtlichen und moralischen Maß-
stäben derartige Untersuchungen mit Rücksicht auf den Schutz der Privatsphäre über-
haupt zulässig sind? Nun ist es sehr schwierig, beim Herzog zu unterscheiden, was aus
privatem Anlass oder in staatlichem Interesse geschieht. Wenn der Herzog regelmäßig
mit hohen Gästen zur Jagd geht oder fast jeden Abend die Vorstellungen des
Residenztheaters besucht, sind das Ereignisse, die ihm sicherlich Vergnügen und Freude
bereitet haben, aber wohl doch mehr der staatlichen als der privaten Sphäre zugeordnet
werden müssen.
Keinen Zweifel kann es darüber geben, dass das Liebesleben des Herzogs dem
privaten Bereich zuzurechnen ist, der bei normalen Bürgern an und für sich
schutzwürdig wäre und vor Indiskretionen bewahrt werden muss. Aber hier geht es um
einen regierenden Fürsten und um wichtige Ereignisse der Zeitgeschichte, die im
19
. Jahrhundert unzählige kontroverse Diskussionen, selbst Partei- und Vereins-
gründungen zur Folge hatten und um ebenso berechtigte historische Fragen der