Seite 152 - Kirchenbuch

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Di et r i ch Kuessner
Jesus als Idealfreund: „Komm
mein Liebster, stärke mich/
komm erquicke mich mit Freu-
den [...] lass mich schauen,
wie du bist so wohlgestalt/
schöner als die schönsten
Frauen/ allzeit lieblich, nim-
mer alt.“ Das Passionslied ist
ein Lob auf die Seitenwunde
Jesu, ein beliebtes Bild in der
Tradition der mystischen, mit-
telalterlichen Frömmigkeit: „O
werter Riss, o süßer Fluss/
nimm hin von mir den Glau-
benskuss.“ Das Neujahrslied
„Hilf, Herr Jesu, lass gelingen“
und das Abendlied „Werde
munter mein Gemüte“ haben
sich bis heute erhalten. Die Lie-
dersammlung berücksichtigte
auch Choräle aus der Feder
von Herzog Rudolf August,
dem „Pietisten“ auf dem Wel-
fenthron. Von ihm sind 16 Lie-
der, Zeugnisse persönlicher
Frömmigkeit, die nicht nach dem literarischen Rang gemessen
werden dürfen. Das Lied „Gott, du bleibest doch mein Gott“, ist
noch im Gesangbuch von 1902 verzeichnet, war also mit dem
Vermerk der herzoglichen Urheberschaft bis 1950 im Braun-
schweigischen singbar. In diesen pietistischen Liedern tritt das
Rühmen der Heilstaten Gottes in den Hintergrund zugunsten
einer oft überschäumenden Begeisterung der frommen Seele
über das erfahrene Heil. Die Liedersammlung von 1698 hatte
einen ausgesprochen pietistischen Liedschatz, der sich außer-
dem in zahlreichen anonymen Liedern wiederfindet.
Schließlich spiegelt das Gesangbuch mit seinen insgesamt mehr
als 200 Liedern über Kreuz und Unglück, Not, Krieg, Pest, sowie
menschliches Elend und Sterben die harten Lebensbedingungen
einer überwiegend ländlichen Bevölkerung wider. Eine Unwet-
terwelle ging im Erscheinungsjahr 1698 über Europa hinweg. Hilf­
Abb. 2:
Anfang des
Kirchenliedes „Oh
Haupt voll Blut und
Wunden [...] “ von
Paul Gerhardt, aus
dem 1762 aufgelegten
Gesangbuch, Quelle:
Landeskirchliches
Archiv Wolfenbüttel,
Bibliothek