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menhang die Epoche der Aufklärung. Diese ist im Braunschweiger Land allerdings
nicht etwa durch einen Bruch zwischen Kirche und Gesellschaft gekennzeichnet.
Vielmehr erstreckte sich die allgemeine Aufbruchsstimmung in Wissenschaft und
bürgerlicher Gesellschaft auch auf Teile der Pfarrerschaft. Wie sehr manch einer da-
bei zugleich Gefahr lief, an theologischer Tiefe und religiöser Ausstrahlungskraft zu
verlieren, und wie weit dabei ureigene kirchliche Anliegen und die religiöse Haltung
der Bevölkerung aus dem Blick gerieten, könnte der gegenwärtigen Profilsuche der
Kirche wichtige Hinweise liefern.
Wenig Erfolg war letztlich jedoch auch der Gegenbewegung beschieden. Durch Rück-
besinnung auf lutherische Werte und originäre kirchliche Anliegen ließ sich die zu-
nehmende Kirchenferne großer Teile der Bevölkerung nicht mehr aufhalten. Dies
zeigt die braunschweigische Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts und überdeut-
lich diejenige des 20. Jahrhunderts. Offensichtlich hängt die Bedeutung der Kirche für
die Menschen der Neuzeit stärker damit zusammen, wie sehr sie in der Lage ist, sich
auf die jeweiligen sozialen und religiösen Verhältnisse einzustellen und den Men-
schen mit ihren Strukturen, ihrem materiellen und ihrem geistlichen Angebot unmit-
telbar zur Verfügung zu stehen. Eine beachtliche Leistung erbrachte sie beispielswei-
se angesichts der dramatischen Verhältnisse in der Nachkriegszeit, als sie in teilweise
erheblich zerstörten kirchlichen Räumen für eine durch die Flüchtlingsströme zeit-
weilig verdoppelte Mitgliederzahl Gottesdienste und erhebliche materielle Hilfe be-
reitstellte. Begrenzt blieben und bleiben aber ihre Möglichkeiten, auf gesellschaftli-
che Entwicklungen und veränderte Interessen angemessen zu reagieren und damit
nicht weiter an Einfluss zu verlieren.
Auf die ursprünglich tiefe gesellschaftliche Verzahnung der Kirche und deren allmäh-
liche Entflechtung seit Beginn der Neuzeit verweisen die traditionelle Verbindung von
Kirche und Schule und ihre allmähliche Trennung voneinander. Fast analog ent
wickelte sich das Verhältnis von Kirche und Staat, von einem nie konfliktfreien Mit-
und Füreinander zu einem oft spannungsgeladenen, in der jüngsten Vergangenheit je-
doch vor allem kooperativen Nebeneinander. Stets aktuell war die Frage nach dem
gebotenen Maß an Einmischung in politische Entscheidungen, ethische und soziale
Themen, stets besonders gefordert ihr Engagement in Zeiten der Not. So propagierte
zum Beispiel der christlich-sozial orientierte Bahrdorfer Pfarrer Eduard Schall, dass
Kirche zwar nicht die soziale Frage lösen, aber ihr Wächteramt wahrnehmen müsse.
Mehr als nur vereinzelte, verhaltene Warnungen hätte man sich von der Kirche in der
Zeit des Nationalsozialismus gewünscht. Die eklatante Überschätzung der eigenen
Einflussmöglichkeiten, ausgedrückt beispielsweise in der von Pfarrern 1931 vielfach
geäußerten Überzeugung, zur Formung der nationalsozialistischen Pläne in einem
mehr christlichen Sinn beitragen zu können, verweist aber auf die Grenzen dieser
Wächterrolle der Kirche.