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Hans-Jürgen Enge l k i ng
EDUARD SCHALL –
ARBE I TERBEWEGUNG UND L ANDESK IRCHE
Von Hans-Jürgen Engel k ing
Vor dem Hintergrund der 1873 durch Börsensturz und Bankenkri-
se ausgelösten, rund zweiundzwanzig Jahre anhaltenden De-
pression mit ihren sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen
und einer gegen den erbitterten Widerstand der herrschenden
Eliten um soziale und politische Emanzipation kämpfenden mar-
xistisch-atheistischen Arbeiterpartei, rangen die großen religiös-
weltanschaulich gebundenen Lager: Protestantismus, Katholizis-
mus und Sozialdemokratie, um die politische und kulturelle
Hegemonie. Während es der römischen Kirche gelang, sich der
katholisch gebundenen Arbeiterschaft zu öffnen und sie zu orga-
nisieren, hatte der an den monarchischen Obrigkeitsstaat und
seine konservativen Eliten gebundene Protestantismus damit kei-
nen Erfolg. Zwar diskutierte der 1890 gegründete und einflussrei-
che Evangelisch-Soziale Kongress die „Soziale Frage“, der poli-
tisch organisierte Protestantismus vermochte jedoch in seinen
beiden Varianten, der konservativ-antisemitischen Christlich-So-
zialen Volkspartei des Hofpredigers Adolf Stoecker (1835-1909)
und dem liberalen National-Sozialen Verein Friedrich Naumanns
(1860-1919), keine Massenbasis zu gewinnen und schon gar nicht
die protestantischen Arbeiter aus dem sozialdemokratischen La-
ger.
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Waren seit der Aufklärung vor allem Angehörige des (Bildungs-)
Bürgertums der Kirche entfremdet und gleichgültig worden,
drohten ihr jetzt große Teile der Arbeiterschaft, um 1890 ein Drit-
tel der Bevölkerung, zu entgleiten. Das Industrieproletariat, trotz
aller relativen Verbesserungen ökonomisch bedroht, war wirt-
schaftlich vor 1914 zumeist nicht in der Lage, alle Grundbedürf-
nisse: Nahrung, Kleidung und Wohnung, gleichzeitig zu befriedi-
gen. Allmählich lösten sich die Arbeiter aus den überkommenen
ländlichen Strukturen und bauten neue soziale Orientierungs-
muster auf. Ausgehend von ihrer gemeinsamen sozialen Basis
entwickelten sie auf der Grundlage solidarischer Organisation
ihrer Interessen im gewerkschafts-politischen Kampf ein neues
(Klassen-)Bewusstsein. Es gelang der trotz Sozialistengesetz
Abb. 1:
Adolf Stoecker,
(1835-1909),
Theologe, Politiker
(christlich-konservativ),
Fotonachweis: ullstein
bild – SZ Photo, Nr.
69071705
Abb. 2:
Friedrich Naumann,
(1860-1919), Theologe,
Politiker (sozial-
liberal), Fotonachweis:
ullstein bild, Nr.
00489911