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Panoramen
Eine Einführung
„Panoramen der Erinnerung“ – der Titel lässt eine doppelte Lesart zu.
Zunächst deutet er auf das Format der ausgestellten Arbeiten hin,
breitformatige Fotograf ien von Uwe Brodmann. Wird hingegen die
metaphorische Bedeutung von Panorama als „Übersicht“ in Rechnung
gestellt, so spielt der Titel angesichts der Umbruchphase des Herzog
Anton Ulrich-Museums auf den Begriff des Gedächtnisses an.
Ein Blick auf die Etymologie des Begriffs „Panorama“ führt die Ambiva-
lenz des Titels vor Augen: Dieser Neologismus aus dem Ende des
18. Jahrhunderts setzt sich zusammen aus „pãn“ (= alles) und „hórãma“
(= sehen) und bezeichnet ein 360° – Ausblick gewährendes Land-
schaftsbild oder eine Stadtansicht. Während der Urheber des Wortes
unbekannt ist, kann man den Zeitraum des ersten Gebrauchs zwi-
schen 1787 und 1795 eingrenzen, vermutlich kam es nicht vor 1792 zur
Anwendung.
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Chamber’s Encyclopedia z. B. def iniert: „ein Wort,
geprägt von oder für Robert Barker, 1788“, das Oxford English Dictio-
nary dagegen erklärt: „ein Name, erfunden von R. Barker 1789.“
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Um 1800 schließlich hat sich der Begriff des „Panorama“ in allen
europäischen Sprachen etabliert. Dazu beigetragen haben vor allem
die zahlreichen übertragenen Verwendungen in Magazinen und Zeit-
schriften. So spricht man z. B. schon 1795 in einer Londoner Theater-
korrespondenz des Journals des Luxus und der Moden von einem
„theatra­lische(n) Allerley unter dem einladenden Titel Panorama aus
Thespis Schule […].“
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In Frankreich wurde das Panorama erst Ende
1799 eingeführt. Fast gleichzeitig mit dem Terminus technicus taucht
jedoch das Wort in seiner übertragenen Bedeutung auf: Im Juni 1800
1 Vgl. Oettermann 1980, S. 7.
2 Chamber’s Encyclopedia, London 1955 und Oxford English Dictionary zitier t nach
Oettermann 1980, S. 7.
3 Journal des Luxus und der Moden, 1980 zitier t nach Oettermann 1980, S. 8.
zitiert das Modejournal einen Bericht des Journal de Paris über die
haute volée: „Frascati (Treff der feinen Gesellschaft), ist ein lebendes,
bewegliches Panorama.“
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Im heutigen Sprachgebrauch dient das Wort Panorama als Metapher
für einen resümierenden Rückblick oder für einen Überblick, der einen
Sachverhalt nicht unbedingt vollständig, aber doch erschöpfend erfasst.
Ob Buchtitel
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, Politik-Magazin
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oder Zeitungsrubrik
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– „Panoramen“
f inden allenthalben Eingang in den allgemeinen Wortschatz. In diesem
Sinne verheißt auch der erhöhte Betrachterstandpunkt einen weiten,
ungehinderten Panorama-Blick in eine Landschaft oder auf eine Stadt.
Entsprechende Wege werden in der Regel als „Panorama-Weg“
ausgewiesen.
Vorläufer des Panoramas
Bereits im 15. Jahrhundert lassen sich in größere Bildzusammenhänge
integrierte, panoramatisch anmutende Landschafts- und Stadtansich-
ten ausmachen. So zeigt die Kompositlandschaft von Jan von Eycks
Rolin-Madonna um 1435 ein naturnahes Traumbild im Abendlicht mit
Tiefensog bis zum beschneiten Gipfelsaum zwischen Erde und Him-
mel.
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In Albrecht Dürers Kupferstich „Nemesis“ (Das große Glück),
um 1501, breitet sich unter der schwebenden Schicksalsgöttin in
Schwindel erregender Tiefe eine „winzige Überschaulandschaft“
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aus,
die die Süd­tiroler Ortschaft Klausen inmitten einer zerklüfteten Alpen-
landschaft zeigt. (Abb. 1).
4 Journal de Paris zitier t nach Oettermann 1980, S. 8.
5 Outram 2006; Behna 2004.
6 „�����������������������������������������������������������������������������
Panorama“ lautet der Titel eines Politik-Magazins im Ersten Deutschen Fernse-
hen.
7 Die Süddeutsche Zeitung fasst unter der Rubrik „Panorama“ Berichte des Gesche-
hens aus aller Welt zusammen.
8 Öl auf Holz, 66 x 62 cm, Musée du Louvre Paris, vgl. Bruno Weber 1993, S. 20
sowie S. 25.
9 Schoch 2001, S. 97.