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„In ihrer hoch verdichteten Erzählung vollbringt
Kirsten Döbler das Kunststück, die Tragik eines ge-
samten Lebens in einen einzigen Halbsatz zu fas-
sen: „Er hatte das Recht verwirkt...“ Döbler hat Raa-
bes Erzählung „Holunderblüte“ auf naheliegende,
aber schlüssige Weise aktualisiert. In beiden Fällen
geht es um den Abschied von einem todgeweihten
Judenmädchen. Bei Kirsten Döbler freilich vor dem
horriblen Hintergrund der Judenverfolgung der Na-
zis. Kirsten Döbler lässt einen alten Mann sein Le-
ben reflektieren, der in den Horror involviert war –
nicht als Nazi, nicht als Täter, sondern als ganz
normaler Deutscher, als einer von Millionen, die
sich nicht aufgelehnt haben, die keine Helden wa-
ren und die irgendwie überlebt haben. Und doch
fühlt er sich schuldig. Er hat in seiner Rückschau
nicht nur das Recht verwirkt, den Prager jüdischen
Friedhof zu betreten, sondern er fühlt an der Schwel-
le des Todes: Er hat im moralischen Sinne sein Le-
ben verwirkt. Weil er in einem einzigen Moment
menschlich versagt hat. Doch im Gegensatz zu den
meisten Deutschen, die sich nach dem Ende des
Horrors gern weißwaschen ließen und persönliche
Schuld gern an „die bösen Nazis“ delegierten, be-
kennt er sich still zu seinem Versagen. Das gibt ihm
trotz allem eine gewisse Größe. Kirsten Döbler kom-
primiert Bruchstücke der Erinnerungen des alten
Mannes in anschaulicher Sprache auf ihren lakoni-
schen Schluss hin. Leise und unerbittlich zieht sich
die Sandspur des Todes hindurch. Ein schöner Text.“