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„Die Geschichte von Lisa Kurkowski transportiert
Wilhelm Raabes Meistererzählung „Zum Wilden
Mann“ in die Gegenwart, indem sie die Nachfahren
der Protagonisten von einst zu Wort kommen lässt.
Diese treffen zufällig in Rio de Janeiro aufeinander
– und der Katalysator ihrer Begegnung ist eben je-
nes Rezept für ein Getränk, das dessen Erfinder, der
Apotheker Philipp Kristeller, dem Wahl-Brasilianer
Dom Agostin Agonista in seine Heimat mitgegeben
hat: der famose Hexentrunk „Kristeller“. Dieser
Kräuterlikör wurde unter dem Namen „Cristello“ in
ganz Südamerika zum Nationalgetränk und brachte
der Familie des Auswanderers über Generationen
Wohlstand. Soweit die Oberflächlichkeiten, die
schon ausgereicht hätten, den Text als Paradebei-
spiel produktiver Rezeption zu prämieren. Kurkows
kis neue Erzählung leistet aber weit mehr: Sie denkt
auch eine erzähltechnische Komponente Raabes
weiter, die Erzählung in der Erzählung, das Erken-
nen des Eigenen im Fremden und umgekehrt. Folgt
man aktuellen Interpretationen, so setzte Raabe mit
seiner Erzählung „Zum Wilden Mann“ eine narra
tive Zäsur – auch die kommt bei Kurkowski zum
Tragen. Die Erzählerin dringt in ihr eigenes Erzähl-
Gebäude ein und findet darin eine neue Heimat, die
am Ende von Raabes Text nicht mehr möglich
schien. Wo Raabe seinen Erzählgegenstand zerstört,
versöhnt Kurkowski sich und die Protagonisten-
Nachfahren mit ihm. Der wilde Mann wird zum
Freund, die erzählerische Integration ist gelungen:
eine Schnapsidee mit literarischer Würze. Auf einen
Kristeller“!