Seite 14 - Raabe_inspiriert

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Kinn und sog die von der Hitze gedämpften Düfte
der Umgebung ein.
„Schön hier“, dachte sie, „obwohl ganz anders als
die Wälder von Galiläa und die um Jerusalem.“ Sie
verzog in der Erinnerung an das Land, das sie vor
einem Jahr aus beruflichen Gründen verlassen hatte,
wehmütig den Mund, doch gleich darauf straffte sie
die Schultern, öffnete energisch die Fahrzeugtür, er-
griff ihre Aktentasche, die auf dem Beifahrersitz lag,
rutschte ins Freie, schlug die Tür hinter sich zu, ver-
riegelte den Polo und spähte über die Motorhaube
zum Haus hinüber. Bewohnt sah es nicht aus. Ir-
gendwie strahlte es Melancholie aus, eine Traurigkeit,
vielleicht weil es seine Bewohner verloren hatte.
Sie lächelte bei diesem Gedanken. Eine Macke
von ihr, die ihr als Archäologin aber zugutekam. Sie
konnte die Sprache der Steine verstehen, und zwar
nicht nur anhand der Spuren, die an ihnen oder
zwischen ihnen zu finden waren. Sie spürte, wie sie
fühlten, auch wenn das Unsinn war. Steine waren
schließlich keine Lebewesen. Dennoch. Es war so.
Und dieses Gebäude seufzte vor Trauer, aber nicht
so, wie es viele verlassene Gebäude taten, die sie bis-
her gesehen hatte. In seinem Kummer schien eine
Sehnsucht mitzuschwingen, dazu Wehmut und Be-
dauern, die all die zurückliegenden Jahrzehnte nicht
zu stillen vermocht hatten.
„Neunzehntes Jahrhundert“, dachte sie. „Und gut
erhalten.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
Sie war pünktlich, eine Tugend, die, wie sie sich sag-
te, nicht nur Deutschen vorbehalten war. Mit der
Zunge benetzte sie ihre Lippen, dann klemmte sie