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Skelett zurecht, und mit jeder seiner Bewegungen
steigerte sich das Entsetzen, das Rudolf verspürte,
verdichtete sich die Erinnerung an Dunkelheit,
Sturm, Sirenen, Angst.
Natürlich Angst! Schließlich hatte er sie erlebt,
die Todesangst, damals in jener gottverlassenen Ge-
gend, und sie kehrte im Angesicht dieses lächerli-
chen Figürchens am Turm mit aller Wucht zu ihm
zurück. Mit einem Schlag war er wieder siebzehn
Jahre alt und Flakhelfer. Es regnete und stürmte, die
Nächte im Oktober waren kühl, die Wege morastig.
Mit sieben Schülern waren sie in eine Hütte gezo-
gen, eine in Windeseile zusammengesetzte Baracke.
Es war eng, aber immerhin warm und ohne Fugen
und Ritzen. Sie schliefen auf Strohpritschen. An
den Wänden schlugen sie Nägel ein für Gewehre
und Stahlhelme, Gasmasken und Kochgeschirr. Wie
eine Waffenkammer wirkte der Raum. Da sie nahe
der Front lagen, hatten sie die Aufgabe, nach Nacht-
jägern Ausschau zu halten. Sie wussten, was man
von ihnen erwartete: Flink wie die Windhunde soll-
ten sie sein, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl.
Und was war er gewesen? Ein Hasenfuß, der um
sein Leben fürchtete.
Einzig Judith hatte ihm Halt gegeben in diesen
Nächten. Ausgerechnet Judith! Fünf Jahre zuvor
hatten sie sich beinahe täglich auf der Wiese hinter
der Villa der Weizmanns getroffen, kurz vor Kriegs-
beginn; sie mussten zwölf Jahre alt gewesen sein.
Gemeinsam strichen sie über die Brache, pflückten
Sauerampferblätter und kauten sie durch, so dass
ihre Münder sich mit Speichel füllten. Oder sie lie-