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fen ans Ende der Wiese zu dem Knick, der an eini-
gen Stellen mit Schlingpflanzen überwuchert war.
Sie pflückten Holunderbeeren, aus denen ihre Müt-
ter Gelee kochten, lachten über die tintenfarbenen
Flecken, die die Früchte auf ihren Fingern hinterlie-
ßen.
Bisweilen krochen sie in ihre Lianenhöhle und
spielten ein Spiel, das sie „Totenstarre“ nannten.
Einer von ihnen legte sich auf den Boden, der ande-
re kniete daneben und ließ aus der Hand Sand auf
den liegenden Körper rieseln. Dieser durfte sich
nicht bewegen, musste so lange wie möglich re-
gungslos die kitzelnden Körner ertragen – wie ein
Toter. Judith begann fast immer damit, ihm Sand
auf die Finger zu streuen, arbeitete sich die Arme
entlang hinauf zu seinem Hals, und meist hielt er es
nicht lange aus, die Körnchen unter seinem Hemd-
kragen oder in der Ohrmuschel zu spüren, bevor
ein innerer Impuls ihn zwang, vorzeitig aufzusprin-
gen.
Judith dagegen war gut in ihrem Spiel. Rudolf
konnte die Kuhle unter ihrem Kehlkopf mit Sand
füllen, Spuren auf ihre Stirn legen, ihre Augenlider
mit kleinen Häufchen bedecken – nie bewegte sie
auch nur einen Muskel. Immer gewann sie das Spiel.
Eines Tages auf der Brache erzählte Judith ihm
mit verweinten Augen, sie und ihre Familie würden
Deutschland verlassen und zu Verwandten ins Aus-
land fahren, am übernächsten Morgen schon. Er
versuchte sie zu trösten und konnte es doch selbst
nicht fassen. Sollten sie sich künftig denn nicht
mehr auf ihrer Wiese treffen können?