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Am Abend vor der Abreise waren sie in ihrer Lia-
nenhöhle verabredet. Er hatte versprochen, ein Ta-
schenmesser mitzubringen, damit sie sich in den
Finger ritzen und ihre Blutstropfen vermischen
konnten, denn im Geiste würden sie immer vereint
bleiben, soviel stand fest.
Auf dem Weg zur Haustür stellte Rudolf seiner
Mutter eine Frage, die ihm unter den Nägeln brann-
te: Was würde eigentlich mit der Villa der Weiz-
manns und all ihren Möbeln, dem Geschirr und
den Büchern passieren, wenn Judith und ihre Eltern
im Ausland waren? Judiths Mutter habe ihr gesagt,
jeder dürfe nur einen einzigen Koffer mitnehmen.
Kaum hatte Rudolf seine Frage ausgesprochen,
packte seine Mutter ihn am Arm, schüttelte ihn
durch und verbot ihm, je wieder von den Nachbarn
oder ihrer Villa zu sprechen.
Sie schickte ihn zurück auf sein Zimmer, und als
er protestieren wollte, sprach sie mit solch einer Ein-
dringlichkeit, dass er gehorchte und den ganzen
Abend und die Nacht auf seiner Stube blieb. Weder
war er zum verabredeten Treffen in die Lianenhöhle
gegangen, noch hatte er sich von Judith verabschie-
det.
Der Hahn oberhalb der Apostelfenster krähte, be-
vor sich die Luken schlossen und die Glocke am
Rathausturm die dritte Stunde schlug. Rudolf war
verwundert, in welch kurzer Zeit er an die Stätten
seiner Jugend geflogen und wieder in die Gegenwart
zurückgekehrt war. Trotz der sommerlichen Wärme
und inmitten der Schaulustigen spürte er, dass sich
die Härchen an seinen Armen aufstellten. Er ver-