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Harald Schweingruber
Erinnerungslücken
„Hier sind sie, die alten Bilder!“ Anna wedelte mit
einem grauen, abgegriffenen Schnellhefter in der
einen und einem sepiafarbenen Foto in der anderen
Hand. „Kisten voller Fotos, alte Alben, Postkarten
und Briefe!“ Sie lachte: „Es kommt doch noch alles
zutage.“
„Na endlich!“ Seit dem frühen Morgen hatten wir
den Nachlass meiner Tante sortiert, Wichtiges von
Unwichtigem getrennt und insgeheim nach all den
alten Bildern gesucht – von Menschen, über die sie
in ihren letzten Jahren häufig erzählt hatte.
Nun lagen sie vor uns auf dem Wohnzimmertisch
mitten in der gelben Nachmittagssonne. Schuhkar-
tonweise Gesichter, stumme und strahlende Helden,
über hundert Jahre Familiengeschichte. Oft erwähn-
te und nie gehörte Namen in feinster deutscher
Schreibschrift auf den Rückseiten notiert, bisweilen
zusammen mit einer Jahreszahl. Gemeinsam blät-
terten wir durch die Sammlung.
„Hier, das ist ja wohl Idylle pur!“ Anna hielt ein
dunkelbraunes Foto hoch, das auf Pappe aufgezo-
gen war und auf dem „1883“ notiert war. Ein weiß-
haariger Mann stand lächelnd vor einem Fachwerk-
haus unter blühenden Kastanien inmitten von
Biertischen und Bänken. Glückliche, offenbar bier-