Seite 8 - Heilig

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Das Schlimmste in jenen Tagen war ja die absolute Rechtlosigkeit
gegenüber diesen Allmächtigen. Selbst für uns Kinder war diese
beklemmende Ohnmacht ständig spürbar. Ein ähnlich einprägsa-
mes Erlebnis, hatte ich im Winter 1944. Meine Mutter und ich
begegneten in der Schuhstraße in Braunschweig einem Trupp hohl-
wangiger, erbärmlich wirkender Frauen, die – von Uniformierten
bewacht – Schnee schippen mussten. Schmale Hungergestalten
waren es, die meisten ohne Mantel. Eine in grauer Zopfmusterstrick-
jacke, andere in viel zu weiten Männerjacken und mit Kopftüchern.
Manche trugen nicht mal Schuhe, sondern hatten die Füße mit
Lappen umwickelt.
All das mitten in der Stadt, in der es vor Menschen wimmelte. Jeden
musste das aufrütteln, doch fast alle sahen weg. Wie man mir spä-
ter erzählte, waren es polnische und jüdische Mädchen, angeblich
aus Galizien. Sicher stammten sie aus irgendeinem der vielen KZ-
Lager, die es um Braunschweig herum gab. Meine Mutter ging in
den Laden von Bäcker Eckhardt. Sie kaufte auf Lebensmittelmarken
etwa 20 Brötchen. Die pralle Papiertüte legt sie mir in den Arm. Und
als wir wieder an den „Fremdarbeiterinnen“ – so nannte man sie –
vorüberkamen, flüsterte mein Mutter: „Lass die Tüte fallen.“ Ich tat
es. Die Mädchen stürzten sich auf die Brötchen, die in Sekunden-
schnelle verschwunden waren. Sofort sprangen brüllende Aufseher
auf uns zu. Und meine Mutter, wohl etwas verängstigt, beugte sich
zu mir – dem damals Sechsjährigen – hinunter und fragte: „Wieso
hast Du denn die Tüte fallen lassen?“ Darauf ich: „Aber Du hast es
doch gesagt.“
Wir wurden in ein Polizeirevier gebracht. Meine Mutter musste
irgendwelche Fragen beantworten. Vor uns thronte ein Klotz von
Mann mit einem Bürstenhaarschnitt. Er spielte dauernd einen
Kopierstift von einer Hand in die andere. Schließlich durften wir
gehen. So etwas war gefährlich in jenen Zeiten. Es gehörte zu einem
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I. Kapitel