Man kann davon ausgehen, dass Herzog Wilhelm sich einige Male in seinem Leben
die Frage
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gestellt hat, ob er im Interesse seiner Dynastie auch noch eine Ehe eingehen
müsse, die nicht auf Liebe, sondern auf Herrschaftsansprüchen und Machterhalt
begründet war. Sollte er ein unaufrichtiges Leben mit ständigen Mätressen führen, wie
es noch sein Großvater Karl Wilhelm Ferdinand gehalten hatte, oder sollte er sein
Glück in den Armen junger und hübscher Frauen suchen? Aufgrund seiner
Lebensumstände und der damaligen, ungeschriebenen Moralvorstellungen war der
Herzog genötigt, sich zu diesem Zwecke an die Sängerinnen, Schauspielerinnen und
Tänzerinnen des Theaters zu halten. Die jungen Damen des Adels oder aus
gutbürgerlichen Häusern waren für ihn – bei aller Verehrung – in der Regel unerreichbar
und ein „Hang zum Dienstpersonal” hätte für sein Ansehen katastrophale Folgen
gehabt. Selbst die jungen Damen des Theaters mussten mit einem „Nasenrümpfen” und
einer versteckten Verachtung und Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft rechnen. In
der braunschweigischen Verwandtschaft der Solotänzerin Franziska Gernreich, welche
elf Jahre mit Wilhelm liiert war und einen Sohn mit ihm hatte, erzählt
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man noch
heute, dass Franziska ihre Angehörigen vorsichtshalber nach Eintritt der Dunkelheit
besucht habe. Immerhin war die innige Verbindung der Tänzerin zum Herzog in der
Stadt so bekannt, dass der Komiker Oskar Fischer – sehr zur Verärgerung Wilhelms –
im Residenztheater anlässlich der Aufführung der Fledermaus improvisierte und sang:
„Es möchte wohl jedermann mal gern reich sein.”
Wilhelm hat, einmal abgesehen vom Regentschaftsgesetz (
16
. Februar
1879
), im Sinne
seiner eigenen, legitimen Nachfolge und für den Erhalt
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der Regierungsgewalt der
bevernsche Linie keine ernsthaften und energischen Schritte unternommen; er hat sich
treiben lassen und diese Probleme vor sich hergeschoben. Das Regentschaftsgesetz
(Anhang
7.8
), das in Abstimmung mit Preußen entstanden war, hatte zur Folge, dass, ein
Jahr nach dem Tode Wilhelms, Prinz Albrecht von Preußen als Regent in Braunschweig
einzog und dort zwanzig Jahre residierte, weil die erbberechtigten hannoverschen
Welfen von Preußen und auch vom Bundesrat als „behindert” angesehen wurden.
Die geringe Präsenz in Braunschweig und das aristokratisch-hochmütige Wesen des
Prinzen Albrecht wurden „hinter vorgehaltener Hand” von vielen Landesbewohnern
heftig kritisiert. Als zur Nachfolge des
1906
verstorbenen Albrechts dessen Sohn
Friedrich Wilhelm zur Diskussion stand, fand dieser Vorschlag offenbar bei der
braunschweigischen und preußischen Regierung Unterstützung, nicht jedoch bei der
Mehrzahl der Landesbewohner und schon gar nicht bei der Mehrheit der deutschen
Fürsten, die massiv vom Herzog von Cumberland und dessen einflussreicher Verwandt-
schaft bedrängt wurden. Wenn es schon nicht durchsetzbar war, jetzt einen der Söhne
des hannoverschen Fürsten in Braunschweig regieren zu lassen, dann sollte es jedenfalls
kein weiterer Preuße sein, weil sich dann eine Art von Gewohnheitsrecht entwickeln
könnte und sich eine Situation verfestigt, die eine dauerhafte Nebenlinie der
Hohenzollern zur Folge hätte. Diese Befürchtung, aber wohl auch die Freude am Amt,
veranlassten Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg-Schwerin im Jahre
1907
, die
Wahl zum Regenten im Herzogtum Braunschweig anzunehmen. Sechs Jahre dauerte
dieses mecklenburgische Interregnum, dann wurden die „Karten neu gelegt”, weil der
jüngste Sohn des Herzogs von Cumberland, Ernst August, am
24
. Mai
1913
die einzige
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