Seite 12 - Karl_und_Wilhelm_3

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Tochter des Kaisers, Viktoria Luise, geheiratet hatte. Im November
1913
zog Herzog
Ernst August mit der Kaisertochter unter großem Jubel in Braunschweig ein und
übernahm die Regierung: Nicht das Recht sondern die Liebe hatte gesiegt!
Damit war eingetreten, was Herzog Wilhelm während seines letzten Lebens-
jahrzehnts nach dem Bibelspruch „Recht muss doch Recht bleiben!” durchsetzen wollte,
und was seine Vorfahren durch entsprechende Verträge festgelegt hatten: Ein Welfe saß
wieder auf Braunschweigs Thron. Wilhelms Versäumnisse und seine Unentschlossen-
heit, in Bezug auf die Gründung einer eigenen Familie und die Fortsetzung der
bevernschen Linie, waren unübersehbar; aber immerhin, so glaubte er, seien mit dem
Regentschaftsgesetz seine Fehler überwiegend geheilt und die mit der Thronbesteigung
übernommenen familiären, vertraglichen Verpflichtungen erfüllt.
In Wilhelms Regierungszeit waren die beiden letzten Jahrzehnte von der Entwick-
lung der heimischen Industrie geprägt und von den damit im Zusammenhang stehen-
den sozialen Fragen. Dynamik und Dramatik, die sich hinter diesen wirtschaftlichen
und sozialen Entwicklungen verbargen, hat Wilhelm offensichtlich nicht erkannt,
zumindest darüber keine Notizen hinterlassen. In dieser Hinsicht vertraute er dem
Sachverstand seines Ministeriums. Auch der ihn umgebende, vermögende Braun-
schweiger Adel glaubte weiterhin an die nachhaltige Ertragskraft seines umfangreichen,
ländlichen Besitzes, anstatt sich an die Spitze der „industriellen Revolution” zu stellen.
Hochinteressant sind die Schilderungen über den Verkauf der braunschweigischen
Eisenbahnen im Jahre
1870
. Eine Versammlung von
2.000
Arbeitern und Bürgern hatte
dagegen protestiert, Wilhelm Bracke zum Wortführer gewählt und zwölf Delegierte
bestimmt, die dem Herzog eine Protestnote überbringen sollten. Herzog Wilhelm habe
die Deputation huldvoll empfangen und versprochen, er wolle die Petition lesen und bei
Gelegenheit seine Willensmeinung kundgeben, teilten die Überbringer der Protestnote
mit. In Wirklichkeit hatte Wilhelm jedoch bereits mehrere Monate zuvor in seinem
Tagebuch vermerkt, Philipp von Amsberg habe ihm gesagt „wenn man die Eisenbahnen
verkaufen würde, hätte man einen Gewinn von
7
Millionen.” Dieser Veräußerungs-
gewinn hatte einerseits Wilhelm tief beeindruckt und überzeugt, andererseits wollte er
aber auch Bismarck zeigen, dass Braunschweig zu Kooperationen mit Preußen bereit sei:
Man müsse das Land nicht erst erobern oder annektieren, um eine Zusammenarbeit zu
ermöglichen.
Bestehende und neugegründete Firmen wollten ihre Erzeugnisse, Pläne,
Entwicklungen und Patente möglichst schnell in marktgängige Produkte umsetzen.
Dazu benötigte man leistungsfähige, möglichst zollfreie Verkehrsverbindungen auf
Schiene und Straße, lernwillige Arbeitskräfte und preiswerte Vormaterialien, aber
natürlich auch Unterstützung und Wohlwollen der herzoglichen Regierung. Im
Herzogtum Braunschweig entstanden derartige Betriebe in erster Linie im Zusammen-
hang mit einer gut entwickelten Landwirtschaft: Konservenfabriken, Zuckerfabriken,
eine Zuckerraffinerie, Zichorienkaffee-Fabriken und Maschinenfabriken, in denen
Maschinen und Vorrichtungen für diese Betriebe hergestellt wurden, kennzeichnen den
Beginn der Gründerzeit im Herzogtum. Auch Bodenschätze, wie Eisenerzfelder,
Braunkohlen-, Quarzsand-, Ton- oder Salzvorkommen waren Keimzellen für eine
beachtliche industrielle Entwicklung. Dazu kamen Betriebe im Umkreis des
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