verhältnisse entstanden neue Schwerpunkte, Beziehungen und Abhängigkeiten, die von
der herzoglichen Regierung argwöhnisch beobachtet wurden; es begann allmählich ein
neues Zeitalter, die Gründerzeit, ohne dass „Regierer und Regierte” das sogleich erkannt
hätten. Dieser unaufhaltsame, ökonomische Prozess, ausgehend von England und
Frankreich, aber bald auch von Nordamerika, war selbst durch außenpolitische
Ereignisse, wie die Kriege gegen Dänemark oder Österreich, nicht aufzuhalten.
Nach
1848
, im Zeitalter der Reaktion
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auf die revolutionären Ereignisse, wurden die
politischen Standpunkte, die Verfassungen der einzelnen deutschen Staaten und die
Bündnisverhältnisse neu geordnet, wobei der Einfluss Preußens auf die braunschwei-
gische Politik immer dominierender wurde, allein wegen der geopolitischen Gegeben-
heiten. Und als ab
1862
Otto von Bismarck in der preußischen Politik sich immer mehr
durchsetzte, wurde es für die herzogliche Regierung wesentlich schwieriger, eine
eigenständige Politik zu machen, wie man aus den Briefen und Berichten der
preußischen Gesandten an das Außenministerium in Berlin und aus Bismarcks
Erinnerungen entnehmen kann. Immer ungenierter mischte sich Preußen in die
Angelegenheiten des Herzogtums ein. Die Zeiten, als Wilhelm von Schleinitz in
Braunschweig als „rechte Hand” des Herzogs regierte (bis
1856
) und sein jüngerer
Bruder Alexander in Preußen (Außenminister nach
1848
und von
1858
bis
1861
) die
Politik mitbestimmten, waren unwiederbringlich vorbei.
Herzog Wilhelm hatte nichts gegen Preußen, aber auch nichts gegen Österreich. Mit
beiden Herrscherhäusern verbanden ihn schließlich nahe verwandtschaftliche
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Beziehungen. Gefühlsmäßig tendierte er wohl mehr nach Wien, nicht nur wegen seines
dortigen Wohnsitzes, sondern auch wegen der Nähe zu Kaiser Franz Joseph, dem Sohn
seiner Cousine Sophie, die ja noch bis
1872
gelebt hat. Er hatte aber auch nichts gegen
einen starken deutschen Nationalstaat, so lange seine eigene Souveränität möglichst
unbeschädigt erhalten blieb, wobei ihm bewusst war, dass in Fragen der Außenpolitik
und des Militärwesens Kompetenzen abgegeben werden mussten. Dass ein derartiger
Nationalstaat langfristig oder im Konfliktfall nur unter Preußens Führung denkbar war,
hatte Wilhelm zweifellos gespürt, und zwar besonders bei den Verhandlungen über den
Zoll- und Steuerverein (Band II, Seiten
51
bis
64
). Daher hat er sich
1866
schweren
Herzens und in „letzter Minute” für Preußen und gegen Österreich und seine
hannoversche Verwandtschaft entschieden. Für Otto von Bismarck war das Drängen auf
Beistand durch die braunschweigischen Truppen weniger eine militärische Frage; er
wollte vielmehr den Braunschweiger Welfen einer Gehorsamsprüfung unterziehen, um
ihm zu zeigen, dass es Situationen gibt, wo man Farbe bekennen muss und vor
Entscheidungen nicht weglaufen kann. „Hier stehe ich, ich kann auch anders” ließ
Bismarck nicht durchgehen, wenn es um Preußens Interessen ging, – es sei denn, diese
Einstellung der Beliebigkeit war im speziellen Fall Bestandteil seiner eigenen
politischen Strategie.
Hatte der braunschweigische Adel noch
1848
und
1849
dem Herzog Wilhelm
vorgeworfen, er würde sich in seiner Politik zu sehr an Preußen und Hannover
anlehnen, so schrieb
13
bereits am
23
. Juli
1851
der preußische Gesandte von Arnim nach
einer längeren Unterredung mit Herzog Wilhelm am
18
. Juli in Braunschweig an seinen
König, dass der Herzog „in Wien in seinen conservativen Grundsätzen sehr bestärkt
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