Ist der Widerspruch zwischen unbarmherzigen Wettbewerbsdruck und Sozial-
pflichtigkeit unauflöslich? Ist es vertretbar, dass ständig erhebliche Teile des Firmen-
vermögens und damit auch Arbeitsplätze im Rahmen des Wettbewerbs „aufs Spiel
gesetzt” werden müssen? Dabei entwickelt sich ohne Zweifel in einer Welt, die von
allgemeinem Sicherheitsdenken und Risikoscheu geprägt ist, allerorts eine Angst vor
dem harten Wettbewerb und seinen Folgen, vergleichbar mit der Angst des Tormanns
vor dem Elfmeter.
An derartige, volkswirtschaftliche Abhängigkeiten, Entwicklungen und Zusammen-
hänge dachte natürlich niemand in Braunschweig als in der zweiten Hälfte des
19
. Jahr-
hunderts die Fortschritte auf dem Agrarsektor, die Entwicklung der Verkehrswege und
eine wirtschaftsfördernde Zollpolitik
216
, sowie das verbesserte und gestärkte Finanz-
wesen, aber auch die Gründungseuphorie vieler unternehmungslustiger Bürger einen
ungeahnten ökonomischen Aufschwung in Gang setzten. Immerhin konnten aber auch
hierbei nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen, weil als Folge gelegentlicher Missernten
und den damit im Zusammenhang stehenden Verteuerungen der Lebensmittel, es
immer wieder Zeiten gab, in denen vielen Bürgern die finanziellen Mittel fehlten, den
Gewerbetreibenden Aufträge zu erteilen. In anderen Jahren, insbesondere nach
1873
,
strahlte die allgemeine Wirtschaftsschwäche als Folge des großen Wiener und Berliner
Börsenkrachs ebenfalls auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in
Braunschweig aus. Auch die verschärften Wettbewerbsbedingungen als Folge liberaler
Gewerbeordnungen, machte den Selbstständigen zu schaffen, wie der angesehene
Braunschweiger Stadtdirektor Wilhelm Bode beklagt hat
217
. Ländliche Konkurrenz, die
kostengünstiger arbeiten konnte, bedrängte ihre städtischen Kollegen und die
Eisenbahn ermöglichte im bisher unvorstellbaren Umfang das preiswerte Heranschaffen
von Waren, Materialien und Personal aus größerer Entfernung.
3.1 Wirtschaftliche Lage und Entwicklung in der Stadt Braunschweig nach 1848
Der Braunschweiger Arbeitsmarkt war auf der Arbeitgeberseite gekennzeichnet durch
eine Vielzahl von Kleinstbetrieben, deren Zahl sich von
1822
bis
1852
trotz restriktiver
Zulassungsbedingungen verdoppelt hatte. Fabrikähnliche Zustände gab es im
bescheidenen Umfange seit
1763
im Rahmen der Lackwarenfabrikation bei der Firma
Stobwasser, von
1832
bis
1856
bei der Nachfolgefirma A. W. Meyer und C. Wried, seit
1810
bei der Konkurrenzfirma Johann Heinrich Stockmann in der Wilhelmstraße und
bei den Zichorienfabriken seit
1769
. Anfang des
19
. Jahrhunderts bestanden in
Braunschweig
24
bedeutende Produktionsstätten für Zichorienkaffe, darunter bekannte
Firmen, wie Ludwig Otto Bleibtreu, Johann Heinrich Grassau und Johann Gottlieb
Hauswaldt.
1877
gab es noch acht Fabriken, dreißig Jahre später war die Herstellung von
Zichorien-Kaffee in Braunschweig nahezu bedeutungslos geworden.
Im Jahre
1831
zählte man in der Stadt Braunschweig etwa
1.600
Betriebe in
50
Gewerken mit
1.500
Gesellen und
800
Lehrlingen, die trotz gelegentlicher
Konjunkturschwankungen ihr Auskommen fanden, allzu oft allerdings nur am Rande
des Existenzminimums.
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