Seite 100 - Kirchenbuch

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Kr i st i na Kühnbaum-Schmi dt
gaben, Rechten und von Frauen wahrgenommenen öffentlichen Positionen sowie
den von Frauen gelebten Formen der Frömmigkeit und Religiosität in der braun-
schweigischen Kirchengeschichte nachgegangen werden.
VOR DER REFORMAT ION:
MÖGL ICHKEI TEN WEIBL ICHER ROLLEN IM RAHMEN DER REL IGION
Im Rahmen der vorreformatorischen religiösen Öffentlichkeit begegnete man Frauen
in unterschiedlichen Rollen. Je nachdem, in welchem Ausmaß religiöse Ziele und
Zwecke ihr Leben innerhalb ihrer sozialen Stellung prägten, lebten Frauen als Nonne
oder Äbtissin in einem der Kanonissenstifte oder Frauenklöster der Region
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, was
neben der lebenslangen Absicherung ihrer Versorgung auch den Zugang zu Bildung
und gesellschaftlichem Ansehen zur Folge hatte, als Begine in einem der in den Städ-
ten angesiedelten Beginenkonvente, waren Mitglied in geschlechtergemischten Ka-
landen (geistliche Laienbruderschaften) oder versuchten, als einfaches Glied der all-
umfassenden christlichen Kirche für sich und ihre Familien den zahlreichen religiösen
Vorschriften und Lebensregeln nachzukommen.
Wie konsequent dabei das ganz normale familiäre Leben an kirchlichen Vorgaben wie
Fasten- und Abstinenzgeboten orientiert sein konnte, und wie wichtig es war, beispiels-
weise mit Hilfe von Kerzenstiftungen oder dem Lesen von Messen für verstorbene Ver-
wandte für das Seelenheil der eigenen Familie Sorge zu tragen, belegt anschaulich der
Haushalt der Braunschweiger Witwe Lucie Kubbeling aus dem Jahr 1520.
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Von insge-
samt 55 Gulden, die die Familie im Sommerhalbjahr 1520 ausgab, waren 12 für religiö-
se Stiftungen, 11 für Nahrungsmittel und Getränke und 13 für den Garten bestimmt; alle
weiteren Ausgaben waren jeweils kleine Summen für Einzelzwecke. Die Ausgaben für
religiöse Zwecke hatten also einen besonderen Stellenwert, und es war Aufgabe der
den Haushalt führenden Frau, für das Seelenheil ihrer Angehörigen zu sorgen, indem
sie die dazu von der Kirche angebotenen Möglichkeiten geschickt nutzte. Zugleich hat-
ten diese Ausgaben auch eine repräsentative Funktion: „Ebenso wie exklusive Nah-
rungsmittel, neuangefertigte Kleidung aus wertvollen Stoffen und teure Schmuckstü-
cke dokumentierten und erhöhten religiöse Stiftungen, Memorienbestellungen,
öffentlich von der Kanzel verkündete Seelbäder sowie Kerzenspenden den sozialen
Anspruch und den Status des Familienverbandes und seiner Mitglieder.“
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Eine Möglichkeit, die Sorge für das Seelenheil der Familie mit repräsentativen Zielen
zu verbinden, war im Mittelalter dabei die Mitgliedschaft in einer religiösen Laienbru-
derschaft, den sogenannten Kalanden. Diese lokal-genossenschaftlichen Bruder-
schaften, die besonders im 14. und 15. Jahrhundert eine Blütezeit erlebten, hatten es
sich zur Aufgabe gemacht, bei regelmäßigen Treffen durch das Lesen von besonderen