90
Re i nha r t Staats
einem Unfall gestorben. Bis zum Bau der Stiftskirche St. Blasii in Braunschweig (nach
1172) diente der „Kaiserdom“ in Königslutter als Grabkirche der Welfen.
133
Das Verbot der Verwandtenehe, so weitreichend als Inzest verstanden, dass es im
Adel auch ein Schlupfloch für erlaubte Ehescheidung bot, war gleichwohl missions-
geschichtlich erfolgreich. Denn christliche Männer, auch in den Dörfern, mussten
weit nach außen heiraten. Stammes- und Familienehre, Überschätzung der Blutsver-
wandtschaft als höchste soziale Güter, galten im Kirchenrecht so nicht (vgl. Mt 10,37 f.;
Luk 9,57-62; 14,26f.).
Unter den Stauferkaisern kam die Rechtsprechung über Kapitaldelikte mehr und mehr
in die Hand der weltlichen Obrigkeit. Konsequent hat auch Martin Luther bei Kapital-
delikten einen durch Pfarrer verhängten „großen“ Bann abgelehnt und diesen der welt-
lichen Obrigkeit zugewiesen. Für kleinere Delikte (Diebstahl, Betrug, etc.) konnte frei-
lich der evangelische Pfarrer den „kleinen“ Bann verkünden, was einen befristeten
Ausschluss aus der Abendmahlsgemeinde zur Folge hatte. – So hatten die Archidiako-
natskirchen als „Sendkirchen“, welche öffentliche schwere Sünder einer auch öffentli-
chen Schande aussetzten, bis in die Neuzeit größten Einfluss auf die Bildung einer öf-
fentlichen Moral und Werteethik. Dabei blieb die soziale Ethik stark von der
Individualethik bestimmt. Im gegenwärtigen ethischen Diskurs ist umgekehrt die Indi-
vidualethik so sehr vom Primat einer sozialen Ethik bestimmt, dass eine auf den Einzel-
nen bezogene Kirchenzucht zu einem Randthema christlicher Ethik geworden ist.
8. SOZIALGESCHICHTE
Es gehört zum Wesen des europäischen Mittelalters, dass eine christliche und katho-
lische Kirche alle Bereiche des menschlichen Lebens zu regeln suchte und tatsäch-
lich auch tief beeinflusst hat. Die neuzeitliche Vorstellung eines Christentums ohne
kirchliche Einbindung war unvorstellbar. Daher kann man auch eine mittelalterliche
Sozialgeschichte nur kirchengeschichtlich begreifen. Und so war beispielsweise das
jedermann heutzutage noch ergreifende Gleichnis Jesu vom Barmherzigen Samariter
(Luk 10, 30-37) nicht sinngemäß als ein Beispiel praktizierter Nächstenliebe durch
eine Person außerhalb der Kirche zu verstehen: Im Welfenevangeliar ist der Barmher-
zige Samariter ein Küster; das war eine Person auf unterster Stufe der kirchlichen Hie-
rarchie. Auch die priesterlichen und bischöflichen Autoritäten einerseits und die poli-
tischen und fürstlichen Autoritäten andererseits wollten doch zwei Gewalten unter
der alle Welt regierenden Gewalt Jesu Christi repräsentieren. Einen Gegensatz zwi-
schen „Staat und Kirche“ im Mittelalter anzunehmen, ist ein neuzeitliches Missver-
ständnis und ist eine anachronistische Wertung, der man leider auch in wissenschaft-
licher und zumal populärer Mittelalterliteratur immer wieder begegnet.