Das Ver hä l tn i s von K i rche und Staat
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DAS VERHÄLTNIS VON K IRCHE UND STAAT
von Hans-Jürgen Engel k ing
Das in den verschiedenen historischen Epochen immer wieder reflektierte Verhältnis
von christlicher Kirche und Staat hat in Europa die gesellschaftliche und politische
Entwicklung wesentlich (mit-)bestimmt. Erst die Säkularisierung im 19. Jahrhundert
reduzierte den im Mittelalter begründeten dominierenden Einfluss der Kirche auf das
gesellschaftliche und politische Leben und führte zu einer grundlegenden Neuorien-
tierung im Verhältnis von Staat und Kirche. Zwar trifft die Bibel weder staatstheoreti-
sche noch systematische Aussagen über das Verhältnis von Staat und Kirche, wohl
aber finden sich konkrete überzeitliche Aussagen Jesu und der Apostel zur politi-
schen Gewalt.
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Danach bewegt sich der Christ im Spannungsfeld zwischen gebote-
nem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit (Staat) und der Ablehnung totalitärer Ge-
waltherrschaft. Eine neue Dimension erhielt dieses Spannungsverhältnis durch die
konstantinische Wende, die der bis dahin von der römischen Staatsgewalt verfolgten
christlichen Kirche Macht und Einfluss im Staat sicherte. Für das zur Staatsreligion er-
hobene Christentum bedeutete das nicht nur die Verschränkung von geistlicher und
weltlicher Macht sondern auch das Problem ihrer wechselseitigen Gewichtung. Der
mittelalterliche Dualismus von geistlicher und weltlicher Macht (
Zwei-Reiche-Lehre
)
stellte grundsätzlich die „Einheit von weltlicher Herrschaft und Kirche“ in Frage und
schuf damit theoretisch die Grundlagen sowohl zur Trennung von Staat und Kirche
als auch zur Verweltlichung des Staates. Die Niederlage des Papsttums gegen Kaiser
und Fürsten leitete die Säkularisierung und Emanzipation des Staates von geistlichen
Machtansprüchen ein.
In Abgrenzung zur mittelalterlichen Kirche verwarfen die Reformatoren die „Zwei-Rei-
che-Lehre“ nicht. Aber sie akzentuierten ihre grundsätzliche Verschiedenheit und ver-
zichteten auf den Primat der geistlichen Gewalt gegenüber der Obrigkeit.
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Sie be-
schränkten die Tätigkeit der Kirche auf die Predigt und die Vermittlung des Seelenheils
und wiesen dem Staat die Aufgabe zu, Frieden und Wohlfahrt zu organisieren und zu
bewahren. Während die lutherische Tradition, durchaus auch in Widerspruch zu Lu-
ther
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, die Trennung von weltlicher und geistlicher Gewalt und damit die „Eigengesetz-
lichkeit des Staates“ (über-)betonte und allenfalls ein passives Widerstandsrecht gegen
die Tyrannis konzedierte, setzte der reformierte Protestantismus unter Rückgriff auf die
Königsherrschaft Christi und die Einheit von bürgerlicher und christlicher Gemeinde
auf die Ausrichtung von Gesellschaft und Staat an christlich-ethischen Normen.
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Weil sich im reformierten Protestantismus frühzeitig „konstitutionell-demokratische
Züge“ entwickelten, öffnete er sich den modernen Prinzipien der Volkssouveränität