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Di et r i ch Kuessner
denen dieser auch die Verhältnisse der Küster und Lehrer beschrieb. Immer noch wa-
ren beide Ämter eng miteinander verbunden. „Eine sehr einflussreiche Persönlichkeit
im Dorfe ist der Küster und Schullehrer“, begann er seine Darlegung. Er beschrieb sei-
nen alten Küster als „väterlichen Freund“, aber er beklagte, dass sich die jungen Küs-
ter zusammentun und offenbar unangenehme Fragen diskutierten. „Ist der Küster ver-
pflichtet, den Pastor zu der Amtshandlung abzuholen? Muss er den Ornat und die
Agende nach der Filiale tragen? Muss er das Lied am Sonnabend und die übrigen An-
ordnungen für den Sonntag persönlich entgegennehmen oder kann er das durch
Brief oder Boten abmachen? Muss er, wenn der Geistliche nach dem Filiale kommt,
ihm bis zum Wagen entgegenkommen und den Fußsack in die Stube tragen? Muss er
das Vierzeitengeld und das Jahrgeld persönlich in der Gemeinde für den Pastor ein-
sammeln? Muss er bei Leichen und Hochzeiten im Dorfe umhergehen und die Gäste
einladen? Muss er vor dem Anfang des Gottesdienstes noch auf das Schloss gehen
und der Herrschaft anmelden, dass der Pastor gekommen sei? Muss er, wenn er ein-
mal genötigt ist, die Schule einen halben Tag ausfallen zu lassen, vom Pastor Erlaub-
nis haben oder genügt die bloße Anzeige? Muss er dem Geistlichen in der Kirche das
Lied aufschlagen vor dem Beginn des Gottesdienstes? Muss er auf das herrschaftliche
Chor einen Zettel legen, auf dem die Nummern und der Anfang des Liedes steht? Muss
er in der Kirche und bei jeder Amtsverrichtung das Küstermäntelchen anlegen oder
kann er auch in einem grauen oder braunen Rock erscheinen?“
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Die zahlreichen Fragen dokumentieren die erniedrigende Abhängigkeit des Küsters
vom Pfarrer und zugleich die wachsende Verachtung und Auflehnung gegen den
Pfarrerstand. Aber es gab kein Entkommen, denn die meisten Schulstellen waren mit
der Küsteramt verbunden. In den Städten war das anders, denn dort war das Amt
eines Organisten schon wegen der großen Orgeln vom Opfermann getrennt. Konsisto-
rialpräsident Carl v. Schmidt-Phiseldeck zählte in der Zusammenfassung des evange-
lischen Kirchenrechts des Herzogtums 1894 noch einmal im § 102 die einzelnen
Dienstverrichtungen auf, nämlich “unausgesetzte Anwesenheit in der Kirche bei allen
vom Geistlichen gehaltenen Gottesdiensten“ (1), Leitung des Gesanges mit Stimme
oder Orgel (3), „Begleitung und Unterstützung des Geistlichen bei Taufen, Abend-
mahl, Trauungen und Begräbnissen in und außer der Kirche“ (4), „die Vorbereitung
des Gottesdienstes durch Öffnen der Kirche, Zurichten des Altares und der Kanzel,
Auflegen und Fortschaffen der Paramente, Abholen und Anstecken der Gesangnum-
mern, Aufstellen, Anzünden und Auslöschen der Altarkerzen, Aufstellen und Besor-
gen der Opferstöcke, Armenbecken, Sammelteller bei Kollekten“(5), Beaufsichtigen
der Glocken (6), Wartung der Turmuhr (7), Beaufsichtigung des Kirchengebäude (8)
und des Kirchhofes und Begräbnisplatzes (10), Reinhaltung und Aufbewahrung der
Kirchengeräte.
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Für einen Lehrer, der im Schulalltag um 1900 bis zu 160 Kinder in
zwei Klassen zu unterrichten hatte, war dieser Küsterdienst am Sonntag eine vollstän-
dige Überforderung. Von ihm wurde außerdem erwartet, dass er am Sonntag den