Seite 33 - Lebenswege

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Reinhard Bein
Die Schreckensteiner – auf Spurensuche nach einer
Jugendclique im Zweiten Weltkrieg
Zeitzeugen erinnern sich an eigene Erlebnisse, allerdings fälscht die Zeit die
Erinnerung. Eigene Schuld wird verdrängt, eigene Angst beschönigt, eigenes
Versagen bemäntelt, eigene „Heldentaten“ werden aufgebauscht. Nur selten
kann der Historiker die Aussagen des Zeitzeugen unkritisch übernehmen.
Man muss diesem die Absicht der Fälschung gar nicht unterstellen. Der
Erzähler verarbeitet bei jedem Erzählvorgang das Erlebte neu und überformt
Ängstigendes und Erschreckendes, Traumatisierendes. Je weiter er sich zeit-
lich vom Erlebten entfernt und je öfter er es überarbeitet hat, umso mehr
verändert sich sein Bericht. Vieles, was im eigenen Erinnern verschwimmt,
wird zusätzlich durch fremdes Erleben, durch Bücher, Film und Fernsehen
„handhabbar“ gemacht und überformt. So entstehen Geschichten für die
Nachgeborenen, für die Kinder und Enkel, wenn diese Fragen stellen, schließ-
lich auch für Historiker, die sich für alles Vergangene interessieren.
Wer bei historischen Recherchen wie denen über die Schreckensteiner
vorwiegend auf Interviewpartner angewiesen ist, die aus eigenem Erleben und
eigenem Urteil Geschichte erzählen, ist in einer schwierigen Situation. Geht
es dabei um Ereignisse, die bei den Zeitzeugen starke Emotionen auslösen, ist
er in einer ausweglosen Situation. Konkret: Waren die Braunschweiger Schre-
ckensteiner, von denen der Generalstaatsanwalt im Winter 1942/43 dem
Reichsjustizminister eifrig berichtete, eine Widerstandsgruppe oder eine
harmlose Clique von jungen Leuten, denen der Dienst in der HJ zu fade
geworden war? Mitglieder der Gruppe würden ihre Aktivitäten ganz anders
darstellen und beurteilen als die früheren politischen Gegner: die Angepass-
ten, die Mitläufer, die Systemkonformen, die NS-Aktivisten.
Der Historiker selbst kennt sich in den Geschehnissen, zu denen er forscht,
auch nicht immer genau aus, geht Geschichten auf den Leim, die zu seiner
Arbeitshypothese passen und überhört Antworten, die diesem Arbeitsschema
widersprechen. Ein Beispiel: Die Historikerin Birgit Pohl erhielt vom Arbeits-
kreis Andere Geschichte den Auftrag, über Jugendopposition im 3. Reich, bezo-
gen auf Braunschweig, zu forschen und eine Veröffentlichung vorzubereiten
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Birgit Pohl hat ihre Rechercheergebnisse in einem umfangreichen Literatur- und Forschungsbericht darge-
stellt. Dieser ist nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, da dies eine erhebliche Komprimierung und Umar-
beitung des Textes erforderlich machen würde. Mein Aufsatz zu einem Teilaspekt ihrer Arbeit versucht, die
von ihr gesammelten Zeitzeugenaussagen auszuwerten und ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen.