Seite 34 - Lebenswege

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Sie sprach u.a. mit einem Zeitzeugen über eine Gruppe der Schreckensteiner in
Lehndorf. Am Rande ging es auch um den Charakter der Siedlung. Birgit Pohl:
„Lehndorf war ja die NS-Mustersiedlung.“
Zeitzeuge: „Diese Behauptung halte ich für falsch. Anhand einer Straße
kann ich diesen Ausspruch widerlegen. Ich erinnere mich, dass sehr viele
Lehndorfer Bürger der SPD oder der KPD nahe standen. Es war ein rotes
Lehndorf. Beweis: 1944 wurden sehr viele Lehndorfer nach dem Hitler-
Attentat festgenommen und verhaftet.“
Wie so oft haben beide Seiten Recht und gleichzeitig Unrecht, weil beide
Seiten nur den eigenen Kenntnissen vertrauen.
Wer siedeln wollte in der NS-Mustersiedlung Lehndorf, der musste erbge-
sund, rasserein und politisch zuverlässig sein. Wer siedelte, der siedelte auf
Probe. Stellte sich im Nachhinein heraus, dass der Siedler diesen Bedingungen
nicht entsprach, konnte er sein Haus verlieren.
Die Straße, von der der Zeitzeuge sprach, war die Saarstraße. Hier stehen
in einer langen Reihe Mietshäuser, die die Naziführung bauen ließ, um mit
einem staatlich geförderten Musterprojekt Eindruck zu machen: der Altstadt-
sanierung. Die Bewohner dieser verwohnten und überbelegten Fachwerk-
häuser waren vorwiegend Arbeiter, die den Linksparteien nahe standen. Und
die Naziführung machte keinen Hehl daraus, dass sie diese „Brutstätten der
Opposition“ trocken legen wollte, indem sie deren Bewohner in Mietshäuser
in die neuen Siedlungen Schuntersiedlung, Mascheroder Holz, Lehndorf usw.
umsiedelte. Dort sahen Nazi-Spitzel ihnen auf die Finger.
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Nicht einmal den persönlichen Daten der Zeitzeugen darf der Historiker
ohne kritische Distanz trauen. Ich lese ein Zeitzeugengespräch mit Rulff von
Büren vom 19. März 1997, das in Birgit Pohls Unterlagen abgeheftet ist. Dort
sagt der Zeitzeuge, dass er 1927 am Reform-Realgymnasium Abitur gemacht
hat. Ich greife zu dem Buch „100 Jahre staatliches Realgymnasium 1828 –
1928“ und stelle fest, dass von Büren Michaelis 1925 Abitur machte.
Andererseits wird man sagen müssen, dass Daten und Personen falsch
erinnert werden können, dass aber Inhalt, Gehalt und Kontext eines Erleb-
nisses völlig authentisch erinnert und wiedergegeben worden sein kann. Letzt-
endlich muss der Historiker selbst abwägen, ob er der Schilderung eines Zeit-
zeugen glauben will oder nicht. Gibt es mehrere Zeitzeugen, die vom gleichen
Ereignis, wenn auch vielleicht aus unterschiedlicher Perspektive berichten,
erhöht sich die Zuverlässigkeit der Aussage.
Nach einem Aufruf in der Braunschweiger Zeitung 1999 meldeten sich
etliche Zeitzeugen, die mit Birgit Pohl sprechen wollten. Die Hypothese der
Historikerin war, dass es sich bei dem Phänomen Schreckensteiner um eine
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Reinhard Bein, Zeitzeichen, Stadt und Land Braunschweig 1930 – 1945, Braunschweig 2000,
S.156ff. Markus Mittmann, Bauen im Nationalsozialismus. Braunschweig, die „Deutsche Siedlungs-
stadt“ und die „Mustersiedlung der Deutschen Arbeitsfront“ Braunschweig-Mascherode, Hameln
2003, S.184ff.