Seite 37 - Lebenswege

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Verbeugung höhnisch ‘Einen guten Tag, die Herren!’ wünschten. Abends indes
ging man ihnen tunlichst aus dem Wege. Nach 22 Uhr durfte ein Jugendlicher
unter 18 Jahren ohne triftigen Grund nicht mehr auf der Straße sein. In einem
Lokal schon mal gar nicht. Der HJ-Streifendienst griff ihn sich gnadenlos.“
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Herr D., den Birgit Pohl telefonisch befragte
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, nannte diese Gruppierung
„Börnerstenze“. 15 bis 20 Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren seien es
gewesen, vorwiegend Oberschüler, keine Arbeiterkinder. Bei Gefahr durch den
HJ-Streifendienst seien sie von der Inhaberin des Lokals gewarnt worden, so
dass sie durch den Hinterausgang verschwinden konnten. Er schrieb eine Prü-
gelei auf dem Damm im Frühjahr 1943 mit den SS-Junkern, die im Schloss
gegenüber von Börner ausgebildet wurden, den Börnerstenzen zu. Mehrere
andere Befragte wollen diese Prügelei aber Schreckensteinern zuordnen. Auch
der Tatort ist umstritten, andere nennen den Platz vor dem HJ-Bann 92 am
Löwenwall, dem ehemaligen Logenhaus. Möglichweise sind es zwei verschie-
dene Raufereien, die in den Erinnerungen zusammengelegt werden. Auch dass
einige Jugendliche wegen dieser Auseinandersetzung in das Lager 21
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eingewie-
sen sein sollen, berichtete D., was jedoch von Diestelmann bestritten wird. Man
sieht, dass die Legendenbildung wuchert, weil solche Geschichten natürlich
damals die Runde unter den Jugendlichen machten. Aber wer nicht dabei gewe-
sen war, berichtete nach Hörensagen und suchte sich eine jugendliche Clique aus,
der er das Ereignis zutraute. Fragen nach zeitlicher Einordnung bleiben diffus,
ein Ereignis wie die Prügelei auf dem Bohlweg ist Ausnahme. So ist auch selten
verifizierbar, wie lange eine solche Gruppierung bestand. Wer 16 war (ab 1944
15), wurde eingezogen als Flakhelfer, da war es aus mit der Abgrenzung zur HJ
und dem freien, ungezwungenen Leben in der Clique. Bestand die Gruppierung
trotzdem weiter? Ab 1944 taten auch die Jüngeren Dienst nach den zahlreichen
Luftangriffen. Da blieb wenig Zeit für das Abenteuer, sich trotzig, aber mit
Herzklopfen anders zu geben als die überwiegende Mehrheit der systemkon-
formen Hitlerjungen, die allenfalls heimlich rauchten, Bombensplitter und Flug-
blätter der Alliierten sammelten, was natürlich verboten war, oder ihre Eltern
nicht anzeigten, wenn die BBC hörten.
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Dieter Diestelmann in der Braunschweiger Zeitung vom 13.4.1999.
7
Telefonat mit Birgit Pohl vom 1.3.1999.
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Lager 21: Das so genannte „Polizei-Sonderlager“ in Salzgitter-Hallendorf, im Aufbaugebiet der
„Reichswerke Hermann Göring“, wurde vom Landespolizeichef, dem Höheren SS- und Polizeifüh-
rer Friedrich Jeckeln, im Frühjahr 1940 eingerichtet und hatte „Vorbildfunktion“ für Nazi-Deutsch-
land. Es diente der Unterbringung in- und ausländischer Personen, die dort bei unmenschlich roher
Behandlung zu gefährlicher, meist unproduktiver Arbeit gezwungen wurden. Am 28.5.1941 erhielt
diese Art von Lagern von Himmler den Titel „Arbeitserziehungslager“. Er setzte die Haftdauer auf
56 Tage fest. Über 100 derartige Lager entstanden in den folgenden Monaten und unzählige „Erzie-
hungsabteilungen“ in großen Rüstungsbetrieben. Einerseits sollte damit Arbeitsbummelei und Sabo-
tage unterbunden werden, andererseits sollten diese Lager unter den in- und ausländischen Arbei-
tern Angst und Schrecken verbreiten. Juden sollten sie nicht überleben. (Literatur: Gerd Wysocki,
Arbeit für den Krieg, Braunschweig 1992, S.312-362. Gudrun Pischke, “Europa arbeitet bei den
Reichswerken“. Das nationalsozialistische Lagersystem in Salzgitter, Salzgitter 1995. Gabriele Lofti,
KZ der GESTAPO. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Stuttgart/ München 2000.)