Seite 48 - Lebenswege

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zur städtischen Erinnerungspolitik der 1950er Jahre aus der Überlieferung
gewonnen werden.
NS-Verbrechen sind sowohl im individuellen Gedächtnis der Opfer als
auch im individuellen Gedächtnis der Täter verankert. Aus diesen verschie-
denen, persönlichen Gedächtnissen einzelner Menschen bilden sich im zeit-
lichen Verlauf durch sozialen und kulturellen Wandel verschiedene kulturelle
Gedächtnisse von sozialen Gruppen, letztlich einer Gesellschaft heraus. Diese
öffentliche Erinnerungskultur zeigt sich in der Errichtung von Erinnerungs-
orten, wie beispielsweise Mahnmalen. Daher ermöglicht die Untersuchung
von Mahnmalsetzungen und deren Weihefeiern Aussagen über die unter-
schiedliche Wahrnehmung der NS-Verbrechen zu den jeweiligen Zeit-
abschnitten und in den beteiligten gesellschaftlichen Gruppierungen. Welche
Interpretation der Vergangenheit, welches Masternarrativ der Erinnerung
setzte sich in Braunschweig in den 1950er Jahren durch?
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Der Begriff „Gedenkstätte“ hat im zeitgenössischen Gebrauch der 1950er
Jahre noch nicht die umfassende Bedeutung eines Ortes der Trauer, der
öffentlichen Erinnerung, der historischen Aufklärung, Dokumentation, Samm-
lung, Forschung und pädagogischen Vermittlung, die mit ihm heute verbun-
den sind. Der Begriff „historischer Ort“ bedeutet Ort des Geschehens, wäh-
rend am „Erinnerungsort“ unabhängig vom Ort des historischen Geschehens
ein historisches Ereignis interpretiert erinnert wird.
Außer Acht lässt die folgende Darstellung das städtische Gedenken für die
Toten des Krieges, der Luftangriffe, der Vertreibung und der Kriegsgefangen-
schaft. Unverkennbar ist, dass dieses in den 1950er Jahren eine große, wahr-
scheinlich sogar dominierende Rolle spielte und seinen Ausdruck in mehre-
ren Denkmalsetzungen und Initiativen dazu fand. Dieses darzustellen und die
Wechselbeziehungen in der Braunschweiger Erinnerungskultur zu unter-
suchen, muss einem späteren Arbeitsschritt vorbehalten bleiben.
Politische Rahmenbedingungen der lokalen Erinnerungspolitik
Bevor die städtische Erinnerungskultur am Beispiel der Mahnmalsetzungen
der 1950er Jahre untersucht wird, sollen zunächst die kommunalpolitischen
Akteure und damit zugleich die Rahmenbedingungen der Erinnerungspolitik
vorgestellt werden.
Der bereits im Juni 1945 wieder eingesetzte Oberbürgermeister Ernst
Böhme erinnerte in seiner Eröffnungsrede vor der neu gebildeten Stadtvertre-
tung am 4. Dezember desselben Jahres an die Opfer nationalsozialistischer
Verfolgung. Er nannte als Opfer der Gewalttaten bei der Errichtung der NS-
Diktatur die Gewerkschaftsführer Matthias Theisen und Hermann Basse
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Zur Literatur über Erinnungskultur vgl. u. a. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangen-
heit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006.