Das Tischmodell von 1855/56 als Vorstufe der großen Quadriga
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aufwendig waren und die in keinem der
Briefe erwähnt werden, noch im Dezember
1855. Zum Jahreswechsel hatte Rietschel
jedenfalls auch anderweitig noch reichlich
zu tun, denn ebenfalls bis April 1856 sollte
er das Weimarer Goethe- und Schillerdenk-
mal vollenden. Damit sind aber längst noch
nicht alle Sorgen benannt, denen sich Riet-
schel am Anfang der Modellarbeiten ausge-
setzt sah. BeimEntwurf des kleinenModells
berührte er bald die meisten gestalterischen
Punkte, die ihm bei der Ausführung der
großen Quadriga immer wieder begegne-
ten. Daher stellte er bereits imWinter/Früh-
jahr 1856 grundsätzliche Gedanken über
die große Quadriga an, über ihr Gewicht,
ihre Ausmaße und die Fernwirkung über
dem Schlossportikus. Rietschel erschauerte
vor diesen erdachten Massen. Doch verbat
es sein Ethos, die einmal angenommene
Aufgabe wieder abzugeben.
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Rietschels Begabung und Kenntnisse auf
dem Gebiet der traditionellen und zeitge-
nössischen internationalen Bildhauerei wa-
ren immens. Zusammen bildeten Schadow,
Rauch und Rietschel das bedeutendste Drei-
gestirn in der Bildhauerei im deutschspra-
chigen Raum in der 1. Hälfte des 19. Jahr-
hunderts. Rietschel kannte außer diesen
Berufskollegen auch sehr wichtige Zeitge-
nossen wie z. B. Berthel Thorvaldsen, Lud-
wig Schwanthaler und selbst Johann Wolf-
gang von Goethe. In zehn europäischen
Akademien war er Mitglied und Träger sehr
hoher Orden. Künstlerische Weltläufigkeit
dieses zu den größten Bildhauern Deutsch-
lands zählenden Mannes war seine zweite
Natur. Sie wurde nur noch von seiner Lie-
benswürdigkeit und Bescheidenheit über-
troffen, wie es Schiller häufig betont hatte.
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Der Wagen des Tischmodells und der
historische Bezug
Beginnen wir die Betrachtung des Modells
ausnahmsweise mit dem in den Briefen
von Rietschel und Schiller nur selten er-
wähnten Wagen der Brunonia, von dem der
räderlose Wagenkasten erhalten ist. Heran-
zuziehen sind ferner die beiden oben er-
wähnten Zeichnungen, die aber nur Teilan-
sichten des oberen Wagenscheitels zeigen
(Abb. 23-26)
. Bei der Braunschweiger Skiz-
ze ist außerdem noch das kaum erkennbare
Wappen auf dem Wagenscheitel bemer-
kenswert. Schon bei dem im Januar 1856
entstandenen Wagen zeigt sich der Wandel
von der klassischen Universalität zur braun-
schweigischen Lokalität.
Was für Erfahrungen und Anregungen
könnte Ernst Rietschel in der Gestaltung
des Wagens verarbeitet haben? Die Quadri-
gen auf Ottmers Schlossplänen lassen die
Götterwagen kaum erkennen, so klein und
verstellt sind sie dort
(Abb. 7-15)
. Die vier
Rosse streben jeweils stark auseinander,
und der Wagen erscheint nur schemenhaft.
Selbst der Wagen der berühmten Berliner
Quadriga
(Abb. 19)
, die Rietschel freilich
kannte, taugte ihm nicht zum Vorbild.
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Denn dieser ist kürzer und wirkt mit seinen
steil abfallenden Seitenwangen kompakter
als Rietschels Modellwagen. Letzterer ist da-
gegen länger, und die Seitenwangen fallen
in einem kleinen und einem großen konka-
ven Bogen nach hinten ab.
Am ähnlichsten sind noch die Triumph-
wagen Rietschels, die er nur drei Jahre zu-
vor für die Friese des Dresdener Galeriege-
bäudes modelliert hatte
(Abb. 27)
. Sie
ähneln durch die gestreckte Form und
durch die einfachen konkaven Bögen den
◀
Abb. 26:
Ernst Rietschel, Wagen
des Tischmodells,
ungetönter Gips,
Höhe und Länge 35 cm,
Winter 1856, Dresden,
Skulpturensammlung.