Seite 29 - Quadriga

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Die Herstellung der ersten großen Quadriga von Ernst Rietschel
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Die Zugpferde des 1:3-Modells und ihre
Vorbilder
Die Pferde des Tischmodells, in dem sicher
die Grundsatzentscheidung, „ruhige Pfer-
de“ zu gestalten
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,
zu erkennen gewesen
war, sind heute verschollen. Auf der ande-
ren Seite ließ es Rietschels Hingabe an den
Auftrag gewiss nicht zu, die kleinen Pferde
nur mechanisch in den 1:3-Maßstab zu ver-
größern. Das zeigt sich schon daran, dass
er zwar geplant hatte, das erste Pferd bereits
im Juni 1857 zu vollenden. Aber es kam,
wie es kommen musste, und aus Juni wur-
de sogar Dezember 1857. Dies sei nur bei-
spielhaft für die immer wieder auftreten-
den Verzögerungen bei der Modellierung
der großen Tierfiguren erwähnt. Natürlich
hoffte er, die ersten Erfahrungen würden
ihm bei den nachfolgenden Arbeiten von
Nutzen sein und Arbeit ersparen.
Zu den technischen Problemen kamen
seit Herbst 1857 noch gesundheitliche hin-
zu. Dennoch ging die Modellierung des
2. Pferdes Rietschel besser als erwartet von
der Hand. Nach der im Winter länger als
sonst üblichen Trocknungszeit der Pferdegip-
se, konnten Ende März 1858 tatsächlich die
ersten beiden Abgüsse nach Braunschweig
an Georg Howaldt geschickt werden.
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Rietschel gestaltete die Pferde nach Figu-
ren in der Kunst und „mit Hülfe der Natur“,
indem er sich ein lebendiges Pferd ins Ate-
lier stellte und aufmerksam seine Umge-
bung beobachtete. 1856 meinte C. D. Rauch
scherzhaft, „Rietschel werde keinen Karren-
gaul müßig vorüber gehen sehen“.
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Riet-
schel und Rauch, letzterer belehrt durch
seine langjährige Arbeit an dem Reiter-
standbild Friedrichs des Großen von 1839-
1851, wussten, „wieviel erforderlich sei, um
ein ordentlich organisch tüchtiges Pferd
herstellen zu können“.
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Diese Meinung
teilten sie mit anderen zeitgenössischen
Bildhauern von großen Pferdedenkmälern,
so z. B. mit dem Thorvaldsenschüler Her-
mann Vilhelm Bissen als Bildhauer der Ko-
penhagener Quadriga und Peter J. Clodt von
Jürgensberg, der 1832/33 die St. Petersburger
Quadriga vom Newator und 1842/46 die
großen Pferdebändiger in Neapel schuf: „es
gäbe für den Bildhauer nichts Größeres, als
das Pferd in seiner Schönheit und wahrer
Naturgröße darzustellen … „.
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Seit den ältesten Zeugnissen von Qua­
drigen in der griechischen Vasenmalerei
(Abb. 2)
und auf Reliefs um 680 v. Chr. gel-
ten die Hengste eines schnellen Vierge-
spanns als Symbole von Kraft und Ausdauer.
Daher wählte auch Rietschel vier Hengste
als Zugtiere aus, was in Wirklichkeit die
Führung der eigenwilligen Tiere erschwe-
ren mochte. Jedoch stimmt dieses Vierge-
spann mit der Quadriga als Sinnbild einer
kraftvollen Welfenherrschaft überein.
Rietschel bildete bei der Gangart der Pferde
vom 1:3-Modell nur zwei Leib- und Bewe-
gungstypen aus, bei denen abwechselnd
nur der linke und der rechte Vorderhuf an-
gehoben sind.
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Die Außenpferde heben
jeweils die äußeren Vorderhufe an, die bei-
den Innenpferde seitlich der Deichsel die
Innenhufe
(Abb. 57)
. Die Beine bewegen
sich somit gleichsam paarweise. Die Pferde-
köpfe sind etwas eigenständiger, aber auch
symmetrisch angeordnet. Ausgehend von
der Deichsel wenden sie sich symmetrisch
fächerförmig nach außen und bewegen sich
im Wechsel rhythmisch auf und ab. Sie be-
schreiben einen f lachen Bogen: optische
Kunstgriffe, um die große Pferdereihe als
Einheit und als Summe von individuellen
Tieren darzustellen, was abwechslungsreich
und würdig zugleich erscheint.
Die a-b-a-b-Wechselbewegung der Pferde-
körper hat Rietschel sicher bei Schadows
Quadriga (1789-1793,
Abb. 19
) gesehen und
sich von dieser Skulptur anregen lassen.
Schadow orientierte sich seinerseits gewiss
an den vier antiken Pferden von San Marco
in Venedig. Jedoch zeigen die beiden älteren
Pferdegruppen untersetzte, massige Tierkör-
per mit kleinen Köpfen, die den für natürli-
che Gestaltungen begeisterten Rietschel
nicht wirklich interessiert haben können.
Das gleiche gilt für die Pferde von Ottmers
Schlossplänen, die sich wie wild gebärden.
Rietschels Pferde haben Rasse, wenden
energisch den Kopf und zerren amGeschirr.
Nur die Schweife der Quadrigapferde sind