Seite 65 - Raabe_inspiriert

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Charlott Ruth Kott
Wald der Erinnerung
Ich bin Student der Medizin in Dresden, hatte
Klaus zu Tina gesagt, als sie sich zum ersten Mal tra-
fen. Er brachte damals ein zierliches Gebinde aus
weißen und blauen Holunderblüten mit. Einen
Kranz als Tischschmuck für die Silvesternacht in
Leipzig. Wie lange ist es her, wie viele Jahre sind seit
dieser Zeit vergangen. Vergangenheit, welch ein gro-
ßes Wort – zurückerinnern.
Tina geht die Wege entlang der Gräber auf dem
Friedhof „Beth-Chaim“, übersetzt „Haus des Le-
bens“. Eine Hand in der Jackentasche spielt mit dem
Stein, den sie mitnahm auf die Reise in die Vergan-
genheit. Der Stein fühlt sich kühl und glatt an, er soll
auf eine besondere Steinplatte gelegt werden. Wie
viele Füße sind hier in den Jahrhunderten gegangen,
wie viele Schritte, große und kleine, geht es Tina
durch den Sinn. Sie hat sich von der Reisegruppe ent-
fernt, ist müde und setzt sich am Rande der gelben
Steinmauer unter weit ausladende Holunderzweige.
Der süße Duft von den Holunderblüten umweht
ihre Stirn, hüllt sie mehr und mehr ein, lässt sie
schläfrig werden auf dem „Alten Judenfriedhof “ in
Prag.
Auf der Fahrt von Braunschweig nach Prag hatte
sie in einem Fremdenführer alles Wissenswerte über