Seite 67 - Raabe_inspiriert

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Sehnsüchtig nach Nähe, einem ersten Kuss,
schmiegte sie sich an Klaus und erklärte ihr Vorha-
ben zur Flucht aus der DDR.
Auch, dass die Reise über Berlin nach Braun-
schweig gehen sollte, denn dort lebte ihr Stiefvater.
Er schrieb ihr schon länger Briefe an eine Deckad-
resse in Leipzig und erklärte, wie sie sich zu verhalten
hätte, um in der Bundesrepublik bleiben zu können.
Zuerst müsste sie sich im Abfluglager in Westberlin
melden. Da sie am Tag der Flucht noch nicht volljäh-
rig sein würde, müsste er sich verpflichten, sie in
Braunschweig aufzunehmen. Alles würde er in Berlin
hinterlegen, sie sollte sich keine Sorgen machen. Das
war leicht gesagt, denn weder imMädchenheim noch
im Lehrbetrieb oder in der Gutenbergschule durfte
ihr Vorhaben bekannt werden. Klaus wusste bisher
nichts von der Post aus Westdeutschland. Westkon-
takte waren auch ihm verboten.
Klaus reagierte auf ihre Pläne erregt: „Wie kannst
du deinen, unseren Staat verlassen. Auch wenn dein
Leben im Heim und oft im Betrieb unerträglich ist.
Wir alle, auch ich, müssen Opfer für den Aufbau
des Sozialismus bringen.“ Stundenlang redete er auf
Tina ein, bis die Dunkelheit beide einhüllte und er
seine Gefühle für Tina nicht mehr unterdrücken
konnte.
Sie hatten auch von Braunschweig gesprochen. In
seinem Elternhaus gab es eine reich bestückte Bib-
liothek, noch aus der Zeit vor dem zweiten Welt-
krieg. Klaus hatte viele Bücher gelesen und erzählte
ihr von Wilhelm Raabe aus der Wolfenbütteler und
Braunschweiger Zeit. Sie hörte still und staunend zu,