Seite 98 - Raabe_inspiriert

Basic HTML-Version

248
versuchte mit einiger Mühe sich vorzustellen, was
damals in seinem Geburtsjahr 1989 die ganze Welt
bewegt hatte, und sein klopfendes Herz, das noch
recht beklommen war von der eigenen Flucht, wur-
de ihm unversehens weit und froh.
Fast schon ein wenig beschwingt durchschritt er
die verschiedenen Burghöfe des Hradschin, schaute
in die Höhe zu den schön gezeichneten Fenstern
und Fassaden und stand plötzlich vor dem gewalti-
gen Dom, in dessen Innern, wie er wusste, der naive
Besucher aus Kafkas Roman ein seltsames Gespräch
mit dem Priester über die Unerbittlichkeit des Da-
seins geführt hatte, dass man nämlich vor der Tür
stehen bleiben müsse. Aus diesem Grund trat Alex-
ander auch nicht ein, denn er kannte dieses bedrü-
ckende Gefühl nur zu gut, und so bummelte er lie-
ber hinüber zum Goldmachergässchen, wo der
zerbrechliche und kranke Dichter eine Weile gelebt
hatte. Hier erwarb er ein Bändchen mit den kleinen,
unheimlichen Geschichten, die Kafka selbst für hei-
ter gehalten hatte.
Im Sog der Menschen, der Gedanken und sehr
unklaren Empfindungen lief Alexander traumverlo-
ren zum Fluss hinunter und zur alten Karlsbrücke
hinüber, unter der die Moldau tatsächlich sang, flüs-
terte und schmatzte, am heiligen Nepomuk vorbei,
dann in die Altstadtgassen hinein zu Mozarts Stän-
detheater, wieder etwas seitlich zurück gegen den
Fluss hin, bis er bei den Synagogen einhielt und zur
Besinnung kam. Hier also haben sie gelebt, die alten
Geister und Gespenster, der Golem, der Rabbi Löw,
der Dibbuk und die Juden in ihrer verschlossenen