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III
Baugeschichte
Es
bleibt ungewiss, ob die Kernburg bereits mit
einer Burgkapelle ausgestattet war. Die erstmals im
Jahre 1315 erwähnte Longinuskapelle lag höchst-
wahrscheinlich im Bereich des Vorwerks, das sich,
später als der „Damm“ bezeichnet, vor der Vorburg
nach Osten erstreckte.
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Möglicherweise erhob sich
die Kapelle im Bereich der „Alten Kanzlei“ südlich
des Dammes – entweder auf dem heute unbebauten
Areal, das zum „Kleinen Schloss“ gehört, oder am
südwestlichen Rand des Schlossplatzes.
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Die Be-
zeichnung „Damm“ geht wahrscheinlich auf einen
Knüppeldamm zurück, der das morastige Gelände
außerhalb der Vorburg befestigte. Ein geschwunge-
ner, von Süden nach Norden fließender Seitenarm
der Oker am Ostende des Dammes, umschloss die
Burganlage.
Auf der Nordseite dieses natürlichen
Burggrabens erhob sich die sogenannte Damm-Müh-
le, von der eine Inschrift aus dem Jahr 1462 überlie-
fert ist.
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Gegen Ende des 14. Jahrhunderts wurde am Süd-
ostrand der Vorburg ein mächtiger Wohnturm für die
herzogliche Familie (F) errichtet, dessen Kellerge-
schoss um 1480/90 ein Rippengewölbe erhielt.
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In
diesem Kellerraum brachte man vermutlich das Ar-
chiv unter.
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Als zusätzliche Sicherung der östlichen
Flanke der Vorburg ließ Herzog Heinrich „der Fried-
fertige“ (*1411; 1432-1473) im Jahr 1471 einen der
Ringmauer vorgelagerten, halbrunden Schalenturm
errichten, hinter dessen mächtigen Mauern Kanonen
Aufstellung fanden.
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Dieser Batterieturm, dessen
Bauzeit durch eine Inschrifttafel gesi-
chert ist, zeigt denWandel in der Feuer-
waffentechnik. Verschiedene Quellen
berichten über den Abriss und Wie-
deraufbau verschiedener Gebäude der
Burg im Jahr 1488.
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Um die Wende
vom 15. zum 16. Jahrhundert versah
man Wohnturm und Hausmannsturm
mit den auf Cranachs Holzschnitt
wiedergegebenen, charakteristischen
Fachwerkbekrönungen. Auch der
Südflügel der Vorburg, dessen Entste-
hungszeit nicht überliefert ist, wurde
um ein Fachwerkgeschoss aufge-
stockt und erhielt einen vorgestellten,
ebenfalls in Fachwerktechnik errichteten Treppen-
turm.
Auch der Vorwerkbereich des Dammes scheint
bereits am Ende des 15. Jahrhunderts befestigt gewe-
sen zu sein. Diese Vermutung kann man jedenfalls
von Baumerkmalen des erst 1803/04 niedergeris-
senen Dammtores, das sich an der östlichen Seite
des Dammbereichs erhob, ableiten.
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Seine Gestalt
entsprach in etwa dem weiter oben beschriebenen,
halbrunden, mit Zinnen bekrönten Schalenturm aus
dem Jahr 1471. Bei genauer Betrachtung des Damm-
torgrundrisses fällt auf, dass das Gebäude aus einem
vermutlich
älteren rechteckigen und einem jünge-
ren runden Bauteil bestand. Wegen seiner langen,
schlecht beleuchteten Durchfahrt war das Dammtor
auch als das „Düstere Tor“ bekannt. Noch heute sind
auf der Ostseite des Hauses Schlossplatz 4 Reste alter
Befestigungsmauern
erhalten. Möglicherweise bilde-
ten sie zusammen mit dem Dammtor die Befestigung
des Vorwerks.
Wie Herzog Heinrich „der Jüngere“ selbst be-
zeugt, bot die Burg Wolfenbüttel bei seinem Regie-
rungsantritt im Jahr 1514 ein Bild der Verwahrlosung.
Er stand nun vor der Aufgabe, die Burg zu erneuern
und für sich und seine Familie ein angemessenes
Wohnschloss zu erbauen. Zunächst ließ er auf dem
südlichen Dammgelände, parallel zum Graben, die
„Alte Kanzlei“ errichten, welche im Jahre 1526 erst-
mals erwähnt wird.
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In diesem Gebäude brachte
man 1569 das Hofgericht und die Justizkanzlei, ab
1572 die herzogliche Bibliothek und 1589 auch das
Konsistorium (Verwaltung der lutherischen Landes-
kirche) unter.
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Doch schon 1590, nach dem Umzug
in die „Neue Kanzlei“ der Heinrichstadt, gab man
das Gebäude auf. Südöstlich der alten Kanzlei be-
fand sich, ebenfalls parallel zum Burggraben, das
Haus des Großvogtes.
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Von seinen weiten Reisen nach Oberitalien, ins
Anhaltinische und nach Sevilla, wo er im Jahr 1526
den Hof Kaiser Karls V. (*1500; 1520-1558) besuch-
te,
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kehrte der Herzog mit vielen Eindrücken und
Ideen für seinen Schlossbau wieder nach Wolfen-
büttel zurück. Er hatte die neuesten Renaissance-
schlösser kennengelernt und setzte seine Eindrücke
bei der Errichtung eines modernen, freistehenden
Wohnschlosses, das er parallel zum Burggraben auf
dem Gelände südlich der alten Burg errrichten ließ,
um. Bei der Errichtung des „Tiergartenbaus“ (H), wie
das Gebäude seit 1574 genannt wurde,
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griff man
neueste Entwicklungen des Schlossbaus aus Frank-
reich und Italien (Manoir-Typ) auf und schuf im Ge-
gensatz zur Wehranlage der alten Burg ein Wohn-
schloss der Frührenaissance. Das Gebäude besaß
vermutlich zunächst zwei Stockwerke und ein hohes
Satteldach. Es beherbergte die Wohngemächer Her-
zog Heinrich „des Jüngeren“ und seiner Familie so-
wie Verwaltungsräume.
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Ein hölzerner Brückengang
verband das Gebäude mit der „Alten Kanzlei“. Der
„Tiergarten“, wie des Herzogs Leibgemach in eini-
gen Quellen (die allerdings aus der Regierungszeit
seines Sohnes Julius stammen) genannt wird,
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ver-
dankt diese Betitelung vermutlich den zahlreichen
Gemälden oder Bildteppichen mit Tierdarstellungen,
die seine Wände schmückten. Möglicherweise han-
delt es sich bei diesen Teppichen um jene, die Kaiser
Karl V. Herzog Heinrich „dem Jüngeren“ bei des-
sen Besuch in Sevilla im Jahr 1526 geschenkt hatte.
Möglich erscheint auch, dass der „Tiergarten“ seine
endgültige Ausgestaltung erst bei Instandsetzungs-
▲
Abb. 46
Schloss Wolfenbüttel
um 1569
,
Ausschnitt: „Tier-
gartenbau“ (links)
und Schlosskapelle
(rechts),
Rekonstruktions-
versuch von Elmar
Arnhold und Hans-
Henning Grote