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Mit dem vorliegenden Buch werden nun für das Land Braunschweig Ergebnisse
eines Forschungsprojektes zu Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft publiziert. Im Mittel-
punkt stehen drei zentrale Aspekte: die Analyse von Zwangsarbeit im kriegs- und
rüstungswirtschaftlichen Zusammenhang, die strukturelle Beschreibung der Lebens- und
Arbeitsbedingungen von Zwangsarbeitern im Land Braunschweig sowie die exemplari-
sche Dokumentation und Auswertung von Erinnerungsberichten ehemaliger Zwangsar-
beiter und deutscher Zeitzeugen. Widersprüchlichste Facetten werden sichtbar, die ent-
sprechende komplexe wissenschaftliche Erklärungsansätze erfordern. Dabei wurde die
traditionell gewachsene Wirtschaftsstruktur des Landes in den Mittelpunkt gestellt. Die
weitgehend autonom und in direktem Kontakt mit Berlin agierenden Großbetriebe in Salz-
gitter und Wolfsburg folgten ihren eigenen, landesübergreifend unternehmerischen Ge-
sichtspunkten; sie sind darüber hinaus bereits durch die Veröffentlichungen von W. Benz,
G. Pischke, G. Wysocki sowie K.-J. Siegfried und H. Mommsen / M. Grieger bearbei-
tet. Da der altbraunschweigische Landkreis Holzminden bereits 1941 preußisch wurde,
hat das Projekt diesen Landkreis nicht mehr gesondert untersucht.
Die Ergebnisse sind durch zahlreiche, vielfach neue und erstmals ausgewertete Quellen
abgesichert. Die AOK Braunschweig erlaubte zum ersten Mal einen Zugang zu ihrer Mel-
dekartei für ausländische Zivilarbeiter, wofür an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Ebenfalls
zum ersten Mal wurde die 1948 entstandene so genannte ,belgische Lagerliste’ ausgewertet
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,
die in dieser Publikation durch Angaben aus Quellen der Kriegszeit kommentiert und
ergänzt wurde (Norman-Mathias Pingel). Insgesamt rund 802 Lager in Stadt und Land
Braunschweig einschließlich der blankenburgischen Gebiete, aber ohne den seit 1941 preu-
ßischen Landkreis Holzminden konnten auf diese Weise ermittelt werden. So wird eindrucks-
voll bestätigt, dass das Land Braunschweig mit der angrenzenden ‚Stadt des KDF-Wagens’
(heute Wolfsburg) – gemessen an der Bevölkerung – im Zweiten Weltkrieg eine besonders
hohe Konzentration an Zwangsarbeiterlagern aufwies.
Im ersten Kapitel wird deutlich, dass sich das Land Braunschweig im Zuge der Kriegs-
vorbereitungen seit Mitte der dreißiger Jahre zum Rüstungszentrum entwickelte. Norman-
Mathias Pingel beschreibt in seiner Studie die Grundzüge der Kriegswirtschaft im Land
Braunschweig. Für die Militär- und die Rüstungsindustrie erwies sich die Region dank
ihrer günstigen strategischen Lage in der Mitte des damaligen Deutschen Reiches und der
schon vorhandenen Industriestruktur als besonders anziehend. Durch eine systematische
Auswertung der Protokolle des Rüstungskommandos Braunschweig ließen sich erstmals
detaillierte Informationen über die Art der im Land Braunschweig hergestellten Rüstungs-
güter, über Art und Menge der Produktion führender Braunschweiger Industriebetriebe
Zu Goslar und dem Rammelsberg: Peter
Schyga
, Goslar 1918-1945. Von der nationalen Stadt zur Reichs-
bauernstadt des Nationalsozialismus. Bielefeld 1999; System der Willkür. Betriebliche Repression und natio-
nalsozialistische Verfolgung am Rammelsberg und in der Region Braunschweig. Hg. v. Bernhild
Vögel
,
Goslar 2002;
Dies.
, „Wir waren fast noch Kinder“. Die Ostarbeiter vom Rammelsberg. Goslar 2003.
Einzelfallstudien zur Stadt Braunschweig: Axel
Richter
, Das Unterkommando Vechelde des Konzentra-
tionslagers Neuengamme. Zum Einsatz von KZ-Häftlingen in der Rüstungsproduktion. Vechelde 1985; Karl
Liedke
/Elke
Zacharias
: Das KZ-Außenlager Schillstraße. Der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen bei der
Firma Büssing. Braunschweig 1995 (1. Aufl.); Karl
Liedke
, Gesichter der Zwangsarbeit. Polen in Braun-
schweig 1939-1945. Braunschweig 1997; Bernhild
Vögel
, „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“. Braun-
schweig, Broitzemer Str. 200. Hamburg 1989.
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Die Liste basiert auf der in diesem Jahr für die gesamte britische Zone durchgeführten „Enquête sur les pri-
sons et les camps douteux“ („Suche nach mutmaßlichen Gefängnissen und Lagern“), die im Service des Vic-
times de la Guerre (SVG) in Brüssel aufbewahrt wird.