Seite 11 - Zwangsarbeit

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und über den Einsatz von Fremdarbeitern ermitteln
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. Pingel zeichnet für die Jahre von
1939 bis 1945 das Bild einer Mangelwirtschaft, in der mit Dauer des Krieges trotz zentra-
ler Lenkung durch Berlin regionale Netzwerke für die Aufrechterhaltung der Produktion
immer wichtiger wurden. Dazu gehörte das Beziehungsgeflecht von Rüstungskommando,
Bezirkswirtschaftsämtern, Arbeitsämtern, Industrie- und Handelskammern sowie Unter-
nehmen einschließlich der „Wehrwirtschaftsführer“. Die Integration der hiesigen Industrie
in die NS-Rüstungswirtschaft brachte ihr einen enormen Modernisierungsschub, der für
die Zeit nach 1945 eine günstige Ausgangsposition schuf. Auf zwei Problembereiche der
Kriegswirtschaft geht das Buch in einem Unterkapitel gesondert ein: auf die Auseinander-
setzungen einiger Großbetriebe mit den Rüstungsbehörden bei der Umstellung von der
Friedens- zur Kriegsproduktion und auf die Verlagerung von Produktionsstätten auf das
Land bzw. in unterirdische Anlagen bei Kriegsende (Karl Liedke).
Kapitel zwei wendet sich mit der Darstellung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der
zivilen Zwangsarbeiter, der Kriegsgefangenen und der Konzentrationslagerhäftlinge einem
weiteren Projektschwerpunkt zu. Die ausländischen Arbeiter wurden alle dem deutschen
Zwangsarbeitssystem unterworfen, das sich auf eine ethnisch begründete rassische Hierar-
chie der stufenweisen Zuteilung von Lebens- und Arbeitsraum stützte. Dabei hatten Arbeits-
kräfte aus West- und Südeuropa, die als Angehörige befreundeter Staaten freiwillig gekom-
men waren, allgemein den größten Spielraum bei der Gestaltung ihrer Lebens- und Arbeits-
verhältnisse, gefolgt von den Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen vor allem aus West- und
Nordeuropa. Kaum individuelle Entfaltungsmöglichkeiten hatten polnische Zivilarbeiter und
Kriegsgefangene. Dies gilt um so mehr für die in der Hierarchie noch hinter den Polen ste-
hende Gruppe der ‚Ostarbeiter’, zu der Weißrussen, Russen und Ukrainer gehörten. Diese
Bevölkerungsgruppe – in der Untersuchung auch als Sowjetbürger bezeichnet – kam aus
den von der Wehrmacht besetzten Gebieten der damaligen Sowjetunion. Dazu gehörten
auch die im September 1939 durch die UdSSR annektierten polnischen Gebiete östlich der
durch die Flüsse Bug und San gebildeten Linie, aber nicht die bis September 1939 polnische
West-Ukraine um Lemberg und das Gebiet um Bialystock und die bis 1940 unabhängigen
Staaten Litauen, Lettland und Estland
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. Nachdem Italien im September 1943 einen Waffen-
stillstand mit den alliierten Gegnern des Deutschen Reiches geschlossen hatte, wurden ita-
lienische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene in Deutschland wie Osteuropäer behandelt.
Schlechtere Bedingungen hatten nur noch die polnisch-jüdischen und die sowjetischen
Kriegsgefangenen, Juden aus Zwangsarbeiterlagern und Ghettos sowie (jüdische) Häftlinge
aus Konzentrations- und Arbeitserziehungslagern, die dem System ohne jede eigene Ein-
flussmöglichkeit ausgeliefert blieben. Da alle Gruppen von Fremdarbeitern den Auswirkun-
gen des deutschen Zwangsarbeitssystems unterworfen waren, wird in den folgenden Auf-
sätzen nicht mehr differenziert auf den Grad von Freiwilligkeit und Zwang in der Anwer-
bungspraxis oder bei den Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland eingegangen.
Kapitel drei wird eingeleitet mit einer Analyse des Aufbaus und der Tätigkeit der für
die Organisation und Verteilung der Arbeitskräfte aus allen Teilen Europas zentralen Insti-
tution, der Arbeitsverwaltung. Sie war über ihre Reichstreuhänderstellen zugleich zustän-
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Vgl. u.a. MIAG Bühler, 1846-1996. Chronik einer Maschinenfabrik von außergewöhnlicher Vielseitigkeit.
Braunschweig 1996.
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Vgl. Reichsgesetzblatt 1942 I, 419; 12 Neu 13 Nr. 15748: Polizeiverordnung über die Behandlung von Ost-
arbeitern vom 14. Juli 1943; vgl. auch Mark
Spoerer
, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische
Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im besetzten Europa 1939-1945. München 2001, S. 94.