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Zeitzeuge Chaim Tyller zu der Begebenheit seiner Auswahl:
Als ich nach meinem Beruf gefragt wurde, antwortete ich „Schüler“. Dann hat einer von die-
sen Zivilen mich geschlagen und gesagt, ich sei ein Idiot und solle sagen, ich sei Feinmecha-
niker. Nach dieser Belehrung wurde ich schon klüger und kam in den Transport
22
.
Soweit die Erinnerungen von zehn in Israel interviewten Zeitzeugen.
Ingenieur Pfänder hat als Vertreter der Firma Büssing nach dem Krieg vor der deutschen
Polizei ausgesagt, dass ein jüdischer Arzt namens Menzel an der Auswahl von Arbeitern
teilgenommen hat, der die Häftlinge in zwei Gruppen, ohne Berücksichtigung ihrer
Berufe, geteilt hat. In der ersten Gruppe waren arbeitsfähige, in der zweiten arbeitsunfä-
hige Häftlinge. Bei der Zusammenstellung von diesen beiden Gruppen war man bemüht,
Väter von ihren minderjährigen Söhnen nicht zu trennen
23
. Das könnte eine Erklärung
dafür sein, dass es im Lager in der Schillstraße so viele Minderjährige gab, obwohl nicht
alle von ihnen ihre Väter in der „arbeitsfähigen“ Gruppe hatten.
Die erste Gruppe der ausgewählten Häftlinge, zu der ca. 350 Männer gehörten,
wurde Mitte September 1944 nach Braunschweig transportiert
24
. In dieser Gruppe
waren fast ausschließlich polnische Juden aus dem Ghetto Lodz. Die Auswertung
der zum größten Teil erhalten gebliebenen Transportliste bestätigt, dass sie Nummern
des Konzentrationslagers Neuengamme, ca. 50.500 bis ca. 50.900, bekamen
25
. Da
das Braunschweiger Außenlager noch nicht fertig war, wurden 100 Männer aus
diesem Transport zusammen mit der Baukolonne im Lager Mascherode unterge-
bracht, die anderen 250 Männer wurden nach Vechelde verbracht, einem weiteren, seit
Sommer 1944 bestehenden Büssing-Verlagerungsstandort in der Nähe Braun-
schweigs
26
. Die Gruppe aus Vechelde war als „Unterkommando“ dem Lager Schill-
straße unterstellt.
Mitte Oktober 1944 ging der zweite Transport aus Auschwitz mit ca. 500 Häftlingen
nach Braunschweig ab. Die Transportnummern erstreckten sich von ca. 64.200 bis ca.
64.700. Auch in dieser Gruppe waren polnische Juden in der Mehrheit, nur ca. 10 Juden
22
Chaim Tyller – Gespräch am 28.5.1999 in Haifa. Chaim Tyller hat diesen Mann nach dem Krieg getroffen,
es war ein Pole; an seinen Namen kann sich Tyller nicht mehr erinnern. Tyller hat keine Erklärung für die
Anwesenheit dieses Mannes bei der Selektion.
23
Protokoll vom Verhör durch die deutsche Polizei 1946, in : WF 445. Keiner von den vom Autor interview-
ten Zeitzeugen erinnert sich an den „jüdischen Arzt Menzel“. Laut der Transportliste des KZ Ravensbrück
– wie Anm. 25 – war Felix Menzel ein ungarischer Jude, geb. 1900 in Budapest. Nach Auschwitz wurde er
am 29.6.1944 deportiert, nach Braunschweig kam er mit dem dritten Transport Anfang November 1944,
Lagernummer 66079.
24
Michal Guminer, wie Anm. 6.
25
Diese Liste (im folgenden Teil des Textes: Liste des KZ Ravensbrück) wurde am 14.4.1945 in Ravensbrück,
nach der Ankunft des Evakuierungszuges aus Watenstedt bei Braunschweig, angefertigt. Unter ca. 1.600
Häftlingen befanden sich in diesem Zug auch Juden von der Schillstraße. Diese Liste enthält folgende Infor-
mationen: Häftlings-Nr. in Neuengamme („Alte Nr.), Häftlings-Nr. in Ravensbrück („Neue Nr.“), Nationa-
lität, Häftlingskategorie (politischer Häftling, Jude u.ä.), Vor- und Nachname, Geburtsort und -datum, Datum
der Registrierung im ersten Konzentrationslager (meistens war es das KZ Auschwitz). Das Original der Liste
befindet sich im Archiv der Hauptkommission zur Untersuchung der Verbrechen am Polnischen Volke, Sign.
52, k.79-92, 94-98, 100-108, 110-112, 116-118, 120-125, 128-130, 143, 150, 152-156. Die Liste ist nicht voll-
ständig.
26
Michal Guminer; wie Anm. 6.