Seite 50 - Zwangsarbeit

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Bezirke Zichenau und Bialystok kamen zu Ostpreußen, der Bezirk Kattowitz zu Schle-
sien
7
. Das sich östlich anschließende, unter deutscher Herrschaft verbleibende Restpolen
sollte als „Generalgouvernement“ ähnlich wie das „Protektorat Böhmen und Mähren“
zu einem kolonialen Reichsland und Reservat für fremdländische Arbeitskräfte degra-
diert werden, deren „Abschöpfung“ und rücksichtslose Ausbeutung bald Programm
werden sollte
8
. Welche arbeitsmarktpolitischen Potentiale im okkupierten Polen der deut-
schen Wirtschaft nun auf einmal zur Verfügung standen, war der NS-Führung in vollem
Umfang erst jetzt klar geworden und die bald eingeleiteten Massenrekrutierungen von
Zivilarbeitern zeugten von einem bemerkenswert schnell erfolgten Kurswechsel
9
.
Die deutsche Besatzungsverwaltung im Generalgouvernement setzte bei der Beschaf-
fung von Arbeitskräften schon bald nicht mehr vorrangig nur auf Freiwilligkeit, sondern
auch auf Druck, indem sie für die gesamte männliche Bevölkerung zwischen 14 und 60
Jahren Arbeitspflicht in Deutschland verfügte und den Distrikten und Kreisen Arbeiter-
kontingente auferlegte. In den annektierten polnischen Gebieten gehörten dagegen
Zwangsmaßnahmen wie namentliche Arbeitsaufforderungen unter Androhung von
Repressalien, jahrgangsweise Aushebungen und willkürliches Aufgreifen von Zivilperso-
nen von Anfang an zur gängigen Praxis
10
. Bereits bis Mai 1940 wurden so der deutschen
Landwirtschaft fast eine dreiviertel Million Menschen aus dem besetzten Land als
Arbeitskräfte zugeführt
11
. Nach den schnellen Siegen im Westen waren bis Ende 1940
bereits mehr als 2 Millionen Ausländer reichsweit im Arbeitseinsatz, weit mehr als die
Hälfte davon Polen
12
. Diese Volksgruppe bildete auch das größte Ausländerkontingent im
Braunschweiger Raum. Allein für Stadt und Land Braunschweig waren bei der Allge-
meinen Ortskrankenkasse bis zu diesem Zeitpunkt mehr als fünfeinhalbtausend polnische
Zivilarbeiter versichert. In dieser Region sollte in keinem weiteren Kriegsjahr die Zahl der
Versicherten diesen hohen Wert wieder erreichen
13
. Hier nun Erinnerungen ehemaliger
polnischer Zivilarbeiter, die von den deutschen Besatzungsbehörden mit „freiwilligen
Anwerbungen“ noch in der Anfangsphase des „Fremdarbeiter-Einsatzes“ in das Braun-
schweiger Land gebracht wurden und durchaus unterschiedliche Aufnahme fanden:
Angeworben wurde ich durch das Arbeitsamt, aber eigentlich sah das eher aus wie eine
Straßenrazzia. Keiner wusste, was ihn erwartete, als die Deutschen uns mit Gewalt in LKW’s
einluden und zum Bahnhof fuhren. Der Transport glich einem Gefangenentransport. Wir wur-
den ständig beschimpft. Gefahren sind wir mit einem Personenzug in Waggons dritter Klasse.
Die Reise dauerte drei Tage. Erst nach dem zweiten Tag bekamen wir etwas zum Essen: ein
Brötchen und Grießsuppe. Unser Ziel war Hannover. Nach der Ankunft wurden wir in Grup-
pen aufgeteilt und verschiedenen Arbeitgebern zugeteilt. Wir waren müde, dreckig und hung-
rig und fühlten uns wie Sklaven. Aber das war noch nicht das Ende der Reise. Wir sind wie-
der in einen Zug eingestiegen und Richtung Salzgitter gefahren
14
.
Ich wohnte in Bartochow bei Warta. Wir waren eine arme Bauernfamilie und lebten sehr
einfach. Es war eine scheinbar freiwillige Anwerbung, die unser Dorfschulze durchführte. Ich
7
Martin
Broszat
, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939-1945. Frankfurt a. Main, Hamburg 1965, S. 36 ff.
8
Ebd. S. 27.
9
Herbert
(wie Anm. 4) S. 79 f.
10
Spoerer
(wie Anm. 4) S. 46 f.
11
Herbert
(wie Anm. 4) S. 79 f., 101 ff.
12
Herbert
(wie Anm. 4) S. 112.
13
Vgl. Auswertung der Meldekartei der Allgem. Ortskrankenkasse Braunschweig, Kap. 3.
14
Mieczyslaw Milinski, Pole, damals 17 Jahre alt.