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ich neun Jahre alt war, meine Mutter zwei Jahre später. Mich betreute mein älterer Bruder,
der nach der Niederlage 1939 weiter als Partisan in den Wäldern kämpfte. Deshalb wurden
ich und mein anderer Bruder im Februar 1940 von der Gestapo verhaftet und als Zwangsar-
beiter verschleppt. Wir sind mit einem Personenzug über Breslau gefahren. Auf dem Helm-
stedter Bahnhof wurden wir wie Sklaven begutachtet und von verschiedenen Bauern zur Arbeit
geholt. Ich musste zum Bauern Reinhard H. nach Oebisfelde bei Helmstedt
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.
Ich ging mit meiner Freundin im Juni 1940 in die Stadt. Wir kamen direkt auf eine Straßen-
razzia zu. Die Deutschen suchten sich nur jüngere Menschen aus der Menge aus, die älteren durf-
ten gleich wieder gehen. Sie befahlen uns, auf einen LKW zu steigen. Wir wurden in eine Fabrik
gebracht, wo man die Männer von den Mädchen und Frauen trennte. Abends mussten wir dann
zum Kalischer Bahnhof gehen und fuhren in Viehwaggons weg, die so voll waren, dass wir uns
nur abwechselnd hinlegen oder hinstellen konnten. Man brachte uns nach Deutschland – nach
Braunschweig. Meine Freundin ist in Braunschweig geblieben, ich musste weiter nach Wolfenbüt-
tel zum Metallwerk. Man sagte uns, es wäre eine Munitionsfabrik. Untergebracht wurden wir in
den Baracken auf dem Fabrikgelände. Ich heulte die ganze Zeit und hatte furchtbares Heimweh
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.
Nach dem Ausbruch des Krieges habe ich mich lange Zeit nicht beim Arbeitsamt gemel-
det. Bis 1940 hielt ich mich bei meinen Verwandten im Generalgouvernement auf. Im Oktober
1940 kam ich dann nach Lodz zurück. In meinem Mietshaus hatte ich einen deutschen Nach-
barn, der großes Interesse daran hatte, dass sich alle Polen beim Arbeitsamt registrieren ließen.
Aus Angst, denunziert zu werden, ging ich nun doch zum Arbeitsamt. Es war leider zu spät.
Der Beamte war unerbittlich. Man hat mich mit Gewalt festgehalten und nach einem kurzen
Aufenthalt im Durchgangslager bei Lodz wurde ich im Februar 1941 nach Deutschland
gebracht. Mit einem Personenzug transportierte man uns nach Goslar. Hier wurden wir ver-
schiedenen Arbeitgebern zugeteilt. Ich musste zuerst nach Salzgitter, dann nach Calbecht, auf
die Baustelle der Firma Stickel, Hannover und Pösnecker & Dietrich, Hannover
20
.
Deportationen unter Regie des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz
Fritz Sauckel ab Frühjahr 1942
Nachdem das Scheitern der Blitzkriegskonzeption im Dezember 1941 offenkundig
geworden war, erfolgte in Deutschland auf allen Gebieten die Umstellung der Wirt-
schaftsstrategie auf die Erfordernisse eines langen Abnutzungskriegs
21
. Da sich somit
auch der Plan einer baldigen Auflösung des deutschen Ostheeres und dadurch möglicher
Freisetzung hunderttausender Industriefacharbeiter zerschlagen hatte, setzte sich ange-
sichts der nun schon mehr als 13 Millionen Mobilisierten
22
die Erkenntnis durch, dass
trotz großer rasseideologischer Vorbehalte der sich immer dramatischer entwickelnde
Arbeitskräftemangel nur noch unter „höchster Ausnutzung der russischen Arbeits-
kraft“
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zu überwinden war. Um zur Fortführung des Kampfes die Lebensmittelversor-
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Piotr Kleszcz, geb. in Mokre b. Tschenstochau (Polen), damals 19 Jahre alt.
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Stanislawa Opolska aus Lodz (Polen), damals 16 Jahre alt.
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Wladyslaw Wroblewski, geb. in Lodz (Polen), damals 31 Jahre alt.
21
Herbert
(wie Anm. 4) S. 173 ff.;
Spoerer
(wie Anm. 4) S. 72; Avraham
Barkai
, Das Wirtschaftssystem
des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1988, S. 220.
22
Christian
Streit
, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945.
Stuttgart 1978, S. 192 und
Barkai
(wie Anm. 21), S. 222.
23
Alexander
Dallin
, Deutsche Herrschaft in Rußland 1941-1945. Eine Studie über Besatzungspolitik. Düs-
seldorf 1958, S. 425.