293
gung der Bevölkerung sicherzustellen und die Produktion von Rüstungsgütern erheblich
zu steigern, war die deutsche Kriegswirtschaft mittlerweile alternativlos auf den massen-
haften Einsatz von sowjetischen Arbeitskräften angewiesen
24
. Da die Mehrheit der rus-
sischen Kriegsgefangenen infolge katastrophalster Zustände in den Gefangenenlagern
bereits nicht mehr am Leben war, gingen die deutschen Behörden massiv zur Zwangs-
rekrutierung sowjetischer Zivilarbeiter über
25
. Ostarbeiter – so die offizielle Bezeichnung
– bildeten schon bald das Gros der Millionen Zwangsarbeiter in Deutschlands Kriegs-
wirtschaft. Und so verwundert es nicht, dass von den 42.600 im Arbeitsamtsbezirk
Braunschweig im September 1944 gemeldeten ausländischen Arbeitskräften weit mehr
als ein Drittel Bürger der Sowjetunion waren
26
. Da die Deportationszahlen bis Frühjahr
1942 jedoch weit hinter den Erwartungen der NS-Führung zurückblieben und sowohl in
Polen als auch in den besetzten Gebieten der Sowjetunion Freiwilligenmeldungen auf-
grund der Härte des deutschen Besatzungsregiments sowie der sich immer ungünstiger
für Deutschland entwickelnden militärischen Situation nicht annähernd das erforderliche
Mindestsoll erreichten, ernannte Hitler im März 1942 Fritz Sauckel zum Generalbevoll-
mächtigten für den Arbeitseinsatz. Unter seiner Koordinierung begannen die Arbeits-
einsatzstellen der deutschen Militär- bzw. Zivilverwaltungen nun mit einem an Radika-
lität nicht mehr zu überbietenden Rekrutierungsprogramm. Regelrechte Menschenjag-
den, Verschleppungen ganzer Dorfschaften und Massendeportationen in bis dahin nicht
gekanntem Ausmaß bestimmten fortan den Besatzungsalltag der Ostgebiete
27
.
Zwei Betroffene, damals noch Jugendliche, erinnern sich an ihre Verschleppung:
Im
Herbst 1942 wurde ich aus der Heimat nach Deutschland verschleppt. Man brachte uns mit
einem Güterzug über Polen zuerst nach Berlin, dann nach Salzgitter-Watenstedt. Hier wurden
wir im Arbeitsamt registriert. Ich bekam einen Ausweis und man nahm uns die Fingerab-
drücke ab, dann musste ich zur Arbeit im Walzwerk bei dem großen Eisenhüttenwerk. Unse-
re Walzabteilung war etwa einen Kilometer lang. In unserer Arbeitskolonne waren außer mir
noch sieben Ostarbeiter
28
.
Am 23. August wurde ich zusammen mit anderen jungen Leuten aus unserem Dorf nach
Deutschland verschleppt. Man brachte uns mit Lastwagen durch Polen nach Braunschweig.
Hier befand sich im Arbeitsamt eine riesige Menge von Ostarbeitern. Das war ein vierstöcki-
ges Gebäude, hier verkaufte man uns. Etwa hundert Menschen, darunter auch ich, wurden
nach Watenstedt geliefert. Hier wohnten wir im Ostarbeiterlager Nr. 23. Insgesamt zwölf Holz-
baracken, ich wohnte in der Baracke Nr. 4, mit »Ost«-Zeichen. Der Lagerführer hieß Herr L.,
ein gebürtiger Russe oder Ukrainer, er war ein Ungeheuer. Unsere Männerabteilung (etwa 30-
40 Personen) arbeitete im Werk ‚Erzvorbereitung’, wir arbeiteten als Maler. Im Werk produ-
zierte man Panzerstahl. Das Gelände des Werkes war sehr groß – ca. 50 km
2
. Das Werk hieß
Hermann-Göring-Werke
29
.
Eine Deutschstämmige aus Kursk, im Frühjahr 1942 nach Braunschweig verschleppt,
berichtet:
Meine Mutter lebte nur mit ihren Erinnerungen an die Vergangenheit und war sehr
24
Ulrich
Herbert
, Zwangsarbeit im »Dritten Reich«. In: (wie Anm. 3) S. 16-37, hier S. 19.
25
Herbert
(wie Anm. 4) S. 173 ff.;
Spoerer
(wie Anm. 4) S. 72.
26
Die Ergebnisse der Ausländererhebung vom 30.6.1944 (Tab. 1). In: Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen
Reich Nr. 9 vom September 1944, S. 6.
27
‚Führererlaß’ v. 21.3.1942, nach
Dallin
(wie Anm. 23) S. 442.
28
Nikolai Pridibailo aus Tscherniachowka (Ukraine), damals 16 Jahre alt.
29
Lew Warfolomjew, geb. in Simferopol (Ukraine), damals 16 Jahre alt.