Seite 54 - Zwangsarbeit

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fromm. Die Großmutter war auch fromm und antikommunistisch. Sie beide fühlten sich mit
der orthodoxen Kirche eng verbunden. Alle Kinder, sowohl in der Familie, als auch in der
Schule, waren für das kommunistische System begeistert. Die Großmutter bezeichnete ihre
Enkel als ‚Teufels Kinder’. Meine Einstellung zu Deutschland war bis zum Einmarsch der deut-
schen Armee immer positiv, auch meine Mutter war nicht antideutsch. Von meinem Vater weiß
ich in dieser Hinsicht nichts. Nirgendwo machte sich in jener Zeit eine antideutsche Stimmung
bemerkbar. Überall, auch in der Schule, galten die Deutschen als unsere politischen Freunde.
Erst als uns die Deutschen 1941 angriffen, erlebten wir einen Schock. Ich besuchte damals ein
pädagogisches Gymnasium und war in der zweiten Klasse. Nach dem Kriegsausbruch hatten
wir ständig Angst, die nach einem schrecklichen Ereignis noch schlimmer wurde: Eines Tages
kamen uniformierte deutsche Männer und suchten nach jungen Frauen. Sie haben eine ziem-
lich große Gruppe von Mädchen eingesammelt, bei der auch ich war. Dann mussten wir uns
nackt ausziehen. Wir begannen zu schreien, und es kamen uns daraufhin einige Russen zu
Hilfe, die eine zerstörte Brücke nicht weit von uns wiederaufbauten. Als die Deutschen auf sie
zu schießen begannen und alle töteten, gelang es uns, zu fliehen. Später wurde ich bei einer
Razzia gefangen. Während meiner Flucht vor der deutschen Armee hatte ich mich mit vielen
anderen in einem großen Stall versteckt. Ganz unerwartet tauchten deutsche Soldaten auf, ver-
hafteten uns und luden uns in einen Güterzug ein. Wir durften nur einen Teil unseres Reise-
gepäcks mitnehmen. Es wurde uns gesagt, es wäre nicht notwendig, alles mitzunehmen, denn
wir würden in sechs Monaten zurückkommen. Wir haben daran geglaubt. Es war eine
schreckliche Reise mit dem Zug. Bis Kiew bekamen wir weder Essen noch Trinken. Erst dort
gaben sie uns einen kleinen Becher (wie heute ein Joghurtbecher) mit einer Flüssigkeit, einer
Fleischbrühe vielleicht. Und es stank in dem Zug fürchterlich! Viele erbrachen sich oder hat-
ten Durchfall. Als wir endlich bei Kiew anhielten, stiegen alle aus und entleerten sich. Eine
Fahrt, die ich nie vergessen werde. Sie dauerte drei Wochen. Eine längere Unterbrechung fand
in Breslau statt. Auf dem dortigen Bahnhof begegneten wir Reisenden, die uns auf unsere
ungewisse Zukunft in Deutschland aufmerksam machten. Bisher hatten wir gehofft, dass es
uns dort einigermaßen gut gehen würde, und ich hatte mich mit der Hoffnung getröstet, in
sechs Monaten wieder in Russland zu sein. Jetzt schlich sich eine neue Angst ein, die durch
unangenehme Behandlung in Breslau noch größer wurde. Wir mussten uns nackt ausziehen.
Überall, wo man Haare hatte, wurde man mit einer grünen Flüssigkeit bepinselt. Wir mussten
auch alle duschen. Dabei gab es unter den Duschen nicht genügend Platz. Viele Mädchen
mussten in dem Vorraum warten. An der Tür stand ein Deutscher und schaute zu.
In Verteilerstationen in der Nähe der Bestimmungsorte wählten sich die Vertreter der
Firmen, für die die Zwangsarbeiter arbeiten sollten, eigenhändig die Arbeitskräfte aus.
Sie werden in den Erinnerungen als ‚Sklavenhändler’ oder auch ‚Käufer’ bezeichnet. Die
Bedingungen absoluter Unfreiheit waren für die gerade Angekommenen unübersehbar.
Marusia Heinrich fährt in ihrer Beschreibung fort:
Als wir in Braunschweig ankamen, hör-
ten wir überall Schreie: ‚Raus, raus, alle raus!’. Wir stiegen aus und wurden zu einem großen
Saal auf dem Bahnhof geführt. Diesen Saal werde ich nie vergessen. Wir mussten uns in einer
Ecke aufstellen. Dann kamen deutsche Männer, die unsere Reihe entlanggingen und sich uns
dabei genau ansahen. Sie zeigten mit dem Finger auf das Mädchen, das sie haben wollten.
Wie Sklavenhändler. ‚Mitkommen, mitkommen, mitkommen’ – so klingt es immer noch in
meinen Ohren. Vor dem Bahnhof standen schon Lastwagen bereit. Mit so einem Lastwagen
wurden wir in die Blechwarenfabrik Juliusstraße abtransportiert. Ich merkte sofort, dass das
Fabrikgelände umzäunt war und es wurde uns auch gesagt, dass wir nicht in die Stadt dürften.