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den Ort zu fahren, livrierter Kutscher auf dem Bock. Doch seit der Hof und
die Behörden fort sind, verzichtet man besser auf solchen Zierrat. Die Stadt
ist völlig verkommen. Unkraut wuchert überall. Vor den leer stehenden
Häusern türmt sich der Dreck. Mit den Leuten von Stand zog auch deren
Gesinde nach Braunschweig. Die meisten Gewerbetreibenden verschwan-
den, weil sie in der Stadt nicht länger ihr Auskommen fanden. Selbst in den
einst bevorzugten Quartieren treiben sich mehr Strolche herum, als ehrliche
Bürger. Frevel sind an der Tagesordnung, denn es mangelt an Ordnungs
hütern. Welche Obrigkeit sollte sie auch entlohnen, wo nur noch eine Hand-
voll ehrlicher Steuerzahler Anspruch auf öffentliche Dienste erhebt? Jeder
dritte Bürger ist ausgezogen – das macht einhundertundfünfzig Familien!
Die Bevölkerung schrumpfte von 12.000 auf nur noch 7.000 Einwohner. Die
wenigsten der Verbliebenen sind rechtschaffen und strebsam – wie Du Dir
unschwer denken kannst.‘
Mit einer Geste der Geringschätzung nahm er den Zügel auf, gab dem Brau-
nen im Geschirr einen zügigen Trab vor und lenkte die Kutsche durch das
Augusttor hinaus auf die Landstraße nach Süden.
Dem so genannten Herrschaftlichen Weg folgend war Ferdinand beim Dorf
Stöckheim gezwungen, sein Gespann durch die engen Tore des Weghauses,
einer Zollstation, zu steuern. Mit der Peitsche wies Ferdinand seinen Cousin
auf den dort gelegenen Gasthof hin, ehe er deren Schnur knallen ließ, um
den Braunen zügig das Lechlumer Holz hinauf zu treiben. Oben auf der Er-
hebung wurden bereits die Türme der Nachbarstadt sichtbar.
Als sie den noch immer eindrucksvollen Befestigungsgürtel von Wolfen-
büttel erreichten, kündeten Kirchenglocken gerade die zwölfte Stunde.
Ungehindert rollte das Gefährt über den Vorgraben, durch eine Öffnung im
äußeren Wall auf die von Wasserläufen umschlossene Bastion, von dort über
die wohl ständig herabgelassene Zugbrücke durch das Herzogtor. Dessen
mächtige Torflügel standen weit offen. Ein unbewaffneter, barhäuptiger Kerl
in derber Kluft, offensichtlich der einzige Wachhabende, warf einen kurzen
Blick auf den Wagenlenker, sprang beiseite und deutete einen Bückling an.
Sein respektvolles ‚Grüß Gott, Herr Baron!‘ erwiderte Ferdinand mit einem
knappen Lüften des Dreispitzes.
Vom Herzogtor schnurgerade nach Süden verlief die Herzogstraße. Diesen
nördlichen Bereich der neuen Heinrichstadt hatten Dienstboten, Hand-
werksleute und Tagelöhner bevölkert. Früher wohl recht schmucke Häuser-
zeilen waren verfallen, ihre Fenster leer und öde. Einige in Lumpen gehüll-
te Kinder, die zwischen den zahlreichen Pfützen des vom Unkraut
überwucherten Fahrwegs spielten, nahmen Reißaus vor der herannahen-
den Kutsche. Sonst erregte diese nur die Neugier von ein paar ausgemergel-
ten Hunden, die im Unrat vergeblich nach Futter suchten. Das Quartier
schien menschenleer. Die wenigen Bewohner hatten wohl in der Früh die